Machtrausch
vertauscht. Die beiden haben bereits vor ein paar Wochen ein Verhältnis begonnen. Beide sind verheiratet und beide haben kein Problem damit. Ein wenig Entschädigung für die täglichen Strapazen und ein Entkommen aus dem rauen Projektalltag. Mehr nicht. Es ist nicht die einzige sexuelle Beziehung während des Projektes gewesen, aber die einzige offen gezeigte. Es stört keinen von ihnen, dass fünf von ihnen Eheringe tragen, denn jeder kennt die Spielregeln: Nach dem Projekt ist die Sache wieder vorbei; jeden von ihnen wird es auf andere Projekte in andere Städte verschlagen, und die Ehepartner werden nie etwas davon erfahren. St. Servatius weiß von diesen Dingen offiziell nichts, denn nach außen ein stockseriöses Unternehmen, hat man einen gewissen Ruf zu verlieren. Wird ein Verhältnis zwischen zwei Beratern bei St. Servatius bekannt, muss einer der beiden Beteiligten gehen. Inoffiziell aber werden Ausschweifungen dieser Art als Auslassventil für all den Stress geduldet. Kurz vor Mitternacht steht der blonde Projektleiter abermals auf. Er hat sich zwischenzeitlich auch der Weste und der gestreiften Krawatte entledigt. Jetzt muss er bedeutend länger an das Glas klopfen, um Ruhe einkehren zu lassen. Schließlich sehen ihn fünf angeschwipste und interessierte Gesichter an.
›Ich hatte euch noch einen Vorschlag versprochen, wie wir unsere Teamstärke zukünftig nutzen können, um unsere persönlichen Ziele schneller zu erreichen. Der Grundgedanke ist ganz einfach: Wir schließen jetzt und heute auf unbestimmte Zeit einen Pakt, der absolut vertraulich bleiben muss. Wenn nur einer von euch heute die Zustimmung verweigert, müssen wir die Sache sofort vergessen und ich werde leugnen, jemals diesen Vorschlag gemacht zu haben.‹ Er lächelt sein breites jungenhaftes Lächeln. Totenstille. Er fährt leicht dozierend fort:
›Im Geschäftsleben herrscht Misstrauen. Keiner vertraut dem anderen, keiner hilft dem anderen. Wir leben in einer Ellbogengesellschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist. So läuft die Sache bei St. Servatius, so läuft sie überall in der Wirtschaft. Jeder ist vollkommen auf sich gestellt. Was also wäre, wenn eine Gruppe von Leuten, die untereinander eine wirklich tragfähige Vertrauensbasis aufgebaut haben, dieses Muster bewusst durchbräche und sich gegenseitig, wo und wie es nur geht, unterstützen, helfen, bevorzugen würde? Sich nützliche Informationen zukommen ließe? Den anderen Vorteile verschaffte? Was wäre, wenn sich jeder von uns heute verpflichten würde, zukünftig alles zu tun – und ich meine alles! –, um die anderen Mitglieder dieses Paktes bei ihrer Karriere in jeder erdenklichen Art und Weise zu unterstützen. Wenn ich eine Leistungsbeurteilung türken muss, damit einer von euch schneller zum Projektleiter befördert wird – ich würde es tun, auch wenn es gegen eherne Firmengesetze verstößt! Wenn ich höre, dass jemand in der Teeküche einen aus diesem Team schlecht macht, werde ich dafür sorgen, dass er den Mund hält! Und wenn ich höre, dass einer meiner Klienten einen Marketingleiter sucht, werde ich das Jobangebot nicht wie üblich bei St. Servatius allgemein bekannt machen, sondern unter der Hand einen von euch ins Spiel bringen. Versteht ihr, was ich meine!? Begreift ihr, welchen Vorteil uns dieser Pakt gegenüber dem Heer der Einzelkämpfer verschaffen würde?!‹
Die Gruppe versteht den Charme eines solchen Paktes trotz des üppigen Alkoholkonsums sofort und nickt anerkennend. Man vertraut sich inzwischen blind, hat dieselben Ziele und könnte durch solch einen Pakt in einer Gesellschaft von lauter auf sich gestellten Individuen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil erringen.
›Wie lange würde dieser Pakt laufen ?‹ , fragt einer.
›Lebenslang‹ , antwortet der Blonde. ›Der Charme der Sache wäre, dass wir morgen sofort damit beginnen könnten – aber das richtige Potential dieser Idee werden wir nur ausschöpfen, wenn wir die Sache Jahre und Jahrzehnte durchhalten. Denn dann wird es erst richtig spannend. Wir könnten uns zum Beispiel einen mittelgroßen Konzern aussuchen – Ideen dazu habe ich schon! –, in den wir alle , einer nach dem anderen, in unterschiedliche Positionen einsteigen, also in Marketing, Vertrieb, Controlling, Unternehmensplanung und so weiter. Im Laufe der Jahre werden wir die Karriereleiter zügig weiter aufsteigen. Jeder von uns begünstigt die anderen, wie und wo es nur geht. Wenn wir es geschickt
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