Machtrausch
Er hatte anderes im Kopf. Außerdem wollte sie heute mit dem Essen auf ihn warten und hatte sein Lieblingsgericht zubereitet, mit Lammhackfleisch und Reis gefüllte Paprikaschoten. Bei den letzten zwei Nachrichten ging es um laufende Projekte der Unternehmensstrategie. Er würde diese Themen an Rauch delegieren, der ihm während der nächsten Zeit den Rücken freihalten musste. Im Flugzeug kippte er zwei Fläschchen Rotwein, einen wässrigen Rioja, während er einfach mal an nichts dachte und sich auf das Abendessen mit Barbara freute. Und schon dachte er doch wieder an etwas, nämlich dass es schwierig werden würde, Barbara das gestern per Post gekommene Nacktfoto zu erklären. Hatte sie Renate erkannt, die sie nur sehr flüchtig einmal auf einer Dinnerparty vor ein paar Jahren gesehen hatte? Ihm fiel keine gute Strategie dazu ein, dafür aber eines seiner trostspendenden Gesetze: Wenn Anton Glock einmal keine gute Strategie einfallen sollte, konnte er sich immer noch auf seine stets einsatzbereite situative Brillanz verlassen. Warum nur hatte er von dieser Brillanz heute in Hannover so wenig gemerkt?
Gegen halb zehn betrat Anton Glock die eheliche Wohnung und wurde sofort vom köstlichen Geruch der gefüllten Paprikaschoten begrüßt. Barbara stand mit einer weißen Schürze am Herd und hatte einen großen, hölzernen Kochlöffel in der Hand. Sie wirkte wie Doris Day in ihren besten Filmen. Häuslich und adrett. Ganz in diesem Sinne kam sie auch auf ihn zu, um ihn überschwänglich zu begrüßen. Er küsste sie.
»Du scheinst einen großartigen Tag hinter dir zu haben, Babs. Sobald ich eine Flasche Wein geöffnet und die Krawatte in die Ecke geschmissen habe, musst du mir ausführlich davon erzählen! Mein Tag war nämlich so was von besch…«
»Armer Anton – dann mach schnell, und ich erzähle dir etwas sehr Erfreuliches. Und …«, seine Frau schmunzelte, »… nach ein bis zwei Flaschen Wein erzählst du mir dann, welcher böse Spielkamerad dir heute in dem Sandkasten, den ihr Firma nennt, wieder dein Förmchen geklaut hat, ja!?« Was gab es Schöneres, als nach getaner, blutiger Arbeit in den Schoß der Familie zurückzukehren?
Wie sich herausstellte, hatte Barbara wirklich erfreuliche Nachrichten: Einer ihrer treuen (und wenigen) Kunden war Geschäftsführer eines größeren Architekturbüros mit über fünfunddreißig (!) festangestellten Architekten. Jener Mann ging jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit bei ihr am Laden vorbei (Architekten schienen nie vor zehn Uhr mit dem Arbeiten anzufangen). Und jeden Morgen kaufte er ein wenig Obst, einen Bio-Joghurt oder ließ sich eine Semmel mit artgerechtem Schinken (so nannte Anton das) belegen. Dieser Herr Vettori habe nun beschlossen, die segensreichen Vorzüge gesunder Nahrung all seinen Mitarbeitern zukommen zu lassen. Und so habe sie, Barbara, den Auftrag erhalten, jede Woche eine ganze Anzahl großer Obstkörbe für Vettori zusammenzustellen, die dieser auf den Schreibtischen, im Eingangsbereich und in der Cafeteria verteilen wolle. Außerdem – und hier überschlug sich Barbaras Stimme fast vor Freude – würde sie zukünftig täglich (inklusive Samstag!) eine große und überdies gesunde Brotzeitplatte mit Rohkost, Ökoquark-Dip, Biokäsewürfeln und anderen Leckereien dorthin liefern, damit all die bis spät in die Nacht arbeitenden Architekten ihre Abhängigkeit von gelieferter Pizza und Sushi abbauen könnten. Ob er, Anton, sich vorstellen könne, was das für ihren Umsatz bedeute? Sie habe auch die Versicherung von Vetturi, jeder gelieferten Platte Bestellzettel beilegen zu dürfen, so dass sich von der gesunden Kost überzeugte Architekten auch andere Artikel ihres (jetzt natürlich auszuweitenden) Sortiments frei Architekturbüro liefern lassen könnten.
»Wer macht denn das alles? Du kannst doch nicht dauernd den Laden alleine lassen, um all das Zeugs zu Vetturi zu schleppen ?« Glock nahm einen großen Schluck des eiskalten Rieslings ihres Lieblingsweingutes Angelika Vogel aus dem sonnigen Baden.
»Kein Problem, ist alles schon durchdacht. Die Körbe und Platten kann ich immer gut zusammenstellen, wenn grad mal nichts im Laden los ist. Soll ja vorkommen, weißt du? !« Sie grinste. Mit so viel Ironie hatte sie die maue Umsatzentwicklung ihres Geschäftes noch nie betrachtet. Glock wusste aber, und er überlegte, ob daraus eine Regel abzuleiten wäre, dass gerade die erfolgreichsten Menschen Misserfolge am ehesten zugeben konnten. Auch
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