Machtrausch
große Stücke auf seinen alten Chef hielt, weil dieser ihn auf wohlwollende Art einfach in Ruhe gelassen hatte.
Oben war die kleine Kirche bereits mit einem Viertel der erschienenen Trauergäste voll besetzt. Glock gehörte weder zu jenen, die einen Platz innen hatten ergattern können, noch zu den draußen Gebliebenen: Er stand genau im Portal der weit geöffneten Holztür, eine Schulter in der dunklen und recht kühlen Kirche, die andere in der Sonne. Vor dem Altar war Röckl in einem schlichten, hellen Naturholzsarg aufgebahrt worden. Der Sargdeckel war aus gutem Grunde geschlossen. Der aus dem Fenster geworfene Röckl war mit dem Gesicht zuerst auf dem Pflaster des Firmengeländes aufgekommen. Glock spürte die Strahlen der immer noch leicht wärmenden Herbstsonne auf seiner schwarz gewandeten Schulter, als die gebeugt gehende Witwe, von ihren erwachsenen Kindern zu beiden Seiten gestützt, in die Kirche geführt wurde.
Er trat zur Seite und nickte der Frau leicht zu. Sie sah es nicht. Als die Witwe in der ersten Reihe der Kirche angekommen war, hörten die Glocken auf zu läuten und ein zehnköpfiger, kleiner Chor, der seitlich des Sargs stand, stimmte wunderschön, fast schon überirdisch, das ›Dies Irae‹ aus Mozarts Requiem an. Die Orchesterbegleitung wurde leise von einem Tonband zugespielt. Durch die farbenprächtigen Barockfenster fiel die Sonne in das Innere der Kirche und Glock, der die anschließende Predigt des Pfarrers kaum verstehen konnte, hatte das merkwürdige Gefühl, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Mit dem linken Auge sah er die voll besetzte Kirche, in buntes Licht getaucht und doch seltsam düster, während er gleichzeitig mit dem rechten Auge den sonnenüberfluteten Friedhof mit den unzähligen Grabsteinen sah, um die herum sich die restlichen Dreiviertel der Trauergäste verteilt hatten. Die draußen gebliebenen Gäste konnten von der Predigt kein Wort hören, und so standen sie, meist mit gefalteten Händen, reglos vor, neben und hinter Gräbern, den Kopf tief geneigt und völlig unbeweglich da. Alle waren schwarz gekleidet, und einige hatten ob der Helligkeit Sonnenbrillen aufgezogen, so dass diese unbewegliche Szene surreal und unwirklich wirkte. Wie in einem modernen Theaterstück, bei dem sich das Publikum weniger unterhält als der Regisseur.
Glock entdeckte Nagelschneider in der Nähe des Eingangs an der Mauer. Etwas zu spät gekommen (ein unbedeutendes Kaff wie Grasbach kannte das Navigationssystem seines großen BMWs wohl nicht mehr), umklammerte er mit beiden Armen einen großen Trauerkranz, mit dem die Schuegraf AG sich von ihrem Strategen zu verabschieden gedachte. Der Kranz musste höllisch schwer sein, aber in der allgemeinen Bewegungslosigkeit wollte der Finanzvorstand den Kranz augenscheinlich nicht abstellen. Nur einen Moment lang überlegte Glock, ihm zur Hilfe zu kommen. Nach den kirchlichen Ritualen traten insgesamt sieben Trauergäste nacheinander vor die Trauergemeinde und schilderten, teils in bewegenden Worten und oft von Schluchzen unterbrochen, welche Bedeutung der Mensch Josef Röckl für sie gehabt hatte. Und so lernte Anton Glock an diesem kurzen Vormittag mehr über seinen Chef als zuvor in mehreren Jahren engster Zusammenarbeit. Röckl war in seiner Kirchengemeinde sehr engagiert, war zweiter Vorsitzender des Lions-Clubs der nahen Kreisstadt gewesen, er hatte im Chor gesungen (Bass) und in seiner Freizeit schreinerte er massive Holztische und schnitzte Skulpturen. Anton Glock schämte sich ein wenig, seinem Chef – der augenscheinlich ein interessanterer Charakter gewesen war, als seine Kollegen und Untergebenen in der Firma vermutet hatten – so wenig Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Jetzt war es zu spät. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war eine aufrichtige Beileidsbezeugung für die Witwe und das Versprechen, die Mörder dieses so sichtlich beliebten Mannes nicht so ohne weiteres davonkommen zu lassen.
Nach der Beisetzung wollte er gerade in seinen Wagen steigen, als ihn Nagelschneider von hinten ansprach:
»Herr Glock, wenn Sie noch ein wenig Zeit hätten, würde ich gerne kurz mit Ihnen sprechen? !« Jener hatte Zeit, jedoch wenig Lust, sich in seiner momentanen Stimmung, einer Mischung aus Wut, schlechtem Gewissen und Ratlosigkeit, über so belanglose Themen wie das Vertriebseffizienz-Programm zu unterhalten. Er wehrte darum ab:
»Könnte ich nicht morgen im Büro bei Ihnen vorbeikommen – ich hätte da selbst auch noch ein
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