Machtrausch
Schlaf nicht genug Luft zu bekommen und sog dann unvermittelt und ruckartig eine Riesenmenge Luft auf einmal ein. Was zu einem fast furcht-, jedenfalls aber ekelerregenden Grunzlaut führte. Auf Grund der Enge der Sitze war es ihm unmöglich, den Körperkontakt mit Arm und Schulter, beides in ein altes, beiges Cordsakko gewandet, des Schnarch- und Grunz-wesens zu vermeiden. Er hatte keine Ahnung, weshalb Frau Nockele ihm einen Sitz in der als Holzklasse verschrienen Economy Class gebucht hatte, obwohl er als neues Mitglied der Innersten Führungsgruppe ein Recht auf die etwas geräumigere und viel standesgemäßere Business Class hatte. Auf dem Gangplatz, links neben ihm, saß ein junger Mann, noch jünger als Glock selbst, der, seiner ausgestrahlten Selbstzufriedenheit nach, entweder Investmentbanker oder Unternehmensberater sein musste. Er nuckelte friedlich an seinem Kaffee und las, zumindest machte es den Eindruck, die Financial Times im englischen Original. Eigentlich jedoch, und dies ging Glock langsam auf den Keks, versuchte dieser Ausbund an Neugierde permanent, ihm in die Unterlagen zu sehen. Glock versuchte sich, trotz seiner bleiernen Müdigkeit und seiner immer wieder zu Renates Bericht abschweifenden Gedanken, auf die, von seinen Kollegen Rauch und Blaubusch zusammengestellten, Unterlagen zu konzentrieren. Er wusste gar nicht, wie er die Seiten halten sollte, um seinem Sitznachbarn wirkungsvoll die Einsicht zu verwehren. Er überlegte, ob er, quasi als Test der nachbarlichen Augäpfelbeweglichkeit, das Papier gerade so in dessen Gesichtsfeld halten sollte, dass, bei knapper Wahrung der Firmengeheimnisse, mindestens die Kontaktlinsen des Neugierigen (wenn nicht gar die Pupillen) aus den Augen purzeln mussten. Spontan sprach er seinen verdutzten Nachbarn an:
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie geben mir den Börsenteil Ihrer Financial Times und ich Ihnen dafür meine Unterlagen. Einverstanden?«
Der arme Mann lief zartrot an und murmelte etwas, das wie »Ich wollte nur zum Fenster raussehen …« oder so ähnlich klang. Den Rest des Fluges bezwang der Mann seine Neugier und sein schlechtes Gewissen, indem er seine Zeitung quasi als papierne Mauer und Sichtschutz zwischen sich und seinen Nachbarn hielt. Glock war’s zufrieden und konzentrierte sich endlich auf seinen Foliensatz, während sich der schlafende Grunzer von rechts zutraulich an ihn herankuschelte.
Die Beweisführung des Rauch-Papiers für den Arbeitsplatzabbau in Hannover war betriebswirtschaftlich hieb- und stichfest. Volkswirtschaftlich war es eine Katastrophe für die strukturarme Gegend in Niedersachsen, was aber nach Glocks Ansicht in die Entscheidungsfindung eines Unternehmens üblicherweise nicht einfließen konnte. Jedenfalls nicht ausschlaggebend einfließen konnte. Natürlich wurde auch darüber bei den entsprechenden Entscheidungssitzungen gesprochen. Irgendeiner brachte stets das Thema auf. Zum Beispiel: »Wir dürfen auch nicht vergessen, was das für die wirtschaftsschwache Region dort bedeutet !« Daraufhin nickten alle nachdenklich (und meinten dies auch so), bis jemand pragmatisch fragte: »Gut, Leute. Gibt es irgendeine Alternative zum Personalabbau, die zu keinen wirtschaftlichen Nachteilen für die Schuegraf AG führt? Wenn ja, sollten wir jetzt und heute darüber sprechen .«
Daraufhin wieder Schweigen im Saal und ratloses Kopfschütteln. Man hatte schließlich alle Alternativen im Vorfeld geprüft, und der geplante Abbau war die für den Konzern wirtschaftlich beste Lösung. Daran war nichts zu rütteln. Solange man sich in dem geschlossenen Gedankenmodell bewegte, zur Erreichung von zehn Prozent Umsatzrendite müsse ein Unternehmen, das heute nur die Hälfte davon erzielte (also immerhin Gewinn schrieb, nur eben nicht genug), alle erdenklichen Mittel ergreifen, um die Befriedigung der Anteils-eigner zu erreichen – ja dann gab es eben keine andere Möglichkeit. In den Chefetagen der deutschen Wirtschaft, in Hochfinanz und Politik glaubte man in weiten Teilen an diesen Shareholder Value-Ansatz wie an ein Glaubensdogma. Die eigene Belegschaft und auch einige Vertreter des Managements ahnten jedoch, dass es neben der reinen Aktionärsbefriedigung noch weitere Unternehmensziele geben musste. Wie sonst sollte sich die Belegschaft, wie stets gewünscht, weiterhin mit ihrem Arbeitgeber, der Schuegraf AG, identifizieren können? Die normalen Arbeiter und Angestellten hatten andere Zielprioritäten. Etwa einen
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