Machtrausch
Menschenkenntnis den Vortritt vor den (nicht vorhandenen) Tatsachen und fügte auf dem Block der Fakten hinzu: Nagelschneider (Traditionalist, auf der guten Seite) sowie von Weizenbeck (Manchester-Kapitalist, einer der Bösen?) . Gut und Böse, das klang albern wie im Märchen. Dann fiel ihm vor dem leeren Glas sitzend eine ganze Weile nichts mehr ein. Erst der inspirierende Anblick eines weiteren, gut gefüllten Keferlohers verhalf ihm zu weiteren Erkenntnissen. Es musste irgendjemanden geben, der ein Interesse hatte, die Machenschaften auffliegen zu lassen. Dieser jemand hatte ihm das Gruppensex-Foto zugespielt, auf dem er Renate erkannt hatte, und das ihn schließlich überhaupt erst auf die Spur des Paktes geführt hatte. Wer war dieser jemand? Renate war es nicht, da war er sich sicher. Schließlich hätte sie ihm die Sache auch direkt erzählen können, stattdessen hatte sie ihm schlaglichtartig Einblick in die Vorgehensweise des Paktes gegeben und ihm anschließend unmissverständlich und ganz offen gedroht, sollte er diese Erkenntnisse irgendwie verwenden. Es gab keinen Zweifel darüber, dass er – und vor allem Barbara! – in Gefahr schwebten, solange die Sache nicht aufgeklärt war. Ihn schauderte, denn erst in diesem ruhigen Moment spürte er die Gefahr wirklich, plötzlich wurde sie real für ihn. Er schrieb auf den Hausaufgaben-Zettel Barbara in Sicherheit bringen!!! und zwang sich dann zum Weiterdenken. Renate hatte in ihren Geschichten über den Pakt erwähnt, wie brisant die Mitglieder des Paktes die Existenz der belastenden Sexfotos gefunden hatten. Dementsprechend hatten alle Pakt-Mitglieder die Bilder streng unter Verschluss gehalten. Zufällig fiel ein solches Bild keinem Dritten in die Hände. Und das bedeutete einen weiteren Punkt für den Vermutungs-Block: Pakt-Mitglied will Pakt auffliegen lassen und gibt mir gezielt Hinweise. Wenn herauszufinden wäre, wer der Dissident in den Reihen des Paktes war, würde er die Sache mit dessen Unterstützung in den Griff bekommen können. Er könnte dann versuchen, den Ex-Pakt’ler zu einer Aussage bei der Polizei zu bewegen. Gab es nicht so etwas wie eine Kronzeugenregelung in Deutschland? Er war kein Jurist. Und es fehlte ihm die blasseste Ahnung, wer überhaupt alles Mitglied des ominösen Bundes war. Wer waren die fünf Mitglieder außer Renate? Und, wie ihm siedendheiß einfiel, er nahm bisher lediglich an, dass der Pakt hinter den Gewalttaten stand und irgendwie für alle Unbill verantwortlich zeichnete. Was, wenn das gar nicht stimmte? Alleine und im Wirtshaus war dieses Wirrwarr nicht zu entschlüsseln. Also riss er hinten von einem Block ein Blatt ab und begann eine Liste von Leuten zu erstellen, die ihm in den nächsten Tagen helfen konnten und denen er vertraute. Als erstes setzte er Barbaras Namen darauf. Aber nein, sie wollte er ja aus der Schusslinie bringen, nicht hinein . Er strich den Namen seiner Frau wieder durch. Alois Rauch setzte er darunter. Dann Nagelschneider. Was war mit seinen neuen Mitarbeitern aus der AfU? Die unerträgliche Louise Frühwein? Wohl kaum. Fittkau keinesfalls. Schachter-Radig? Vielleicht. Warum hatte ihm Nagelschneider zum Abschied heute das Karl Kraus-Zitat zur Wirtschaftsethik um die Ohren gehauen? Konnte er das als Hinweis auf ein enges Vertrauensverhältnis zwischen Schachter-Radig und Nagelschneider interpretieren? Seiner Einschätzung nach war der Leiter der Aktionstruppe ein aufrichtiger Mann. Er fügte den Namen Schachter-Radig mit einem kleinen Fragezeichen der Liste hinzu. Wer noch hilfreich sein und auf wen er sich hundertprozentig verlassen konnte, war Volker Klausing, sein alter und dauerarbeitsloser Freund. Auch seinen Namen fügte er hinzu. Zum Schluss Frau Nockele, die in ihrer Biederkeit nirgends Verdacht erregen würde, und die er deshalb gezielt einsetzen konnte, ohne sie zu sehr ins Vertrauen zu ziehen. Recht befriedigt leerte er auch den Rest des zweiten Krugs mit dem süffigen Bier und bezahlte. Zwar hatte er noch keine Ordnung in das Chaos der Schuegraf AG bringen können, aber die Unordnung in seinem eigenen Kopf ein wenig zu lichten vermocht. Und noch während er die schwere Tür des Wirtshauses hinter sich schloss und zum Auto zurück ging, nahm in seinen Gedanken der Umriss eines recht brauchbaren Planes Gestalt an. Es war höchste Zeit, nach Hause zu fahren. Ihm stand die schwere Aufgabe bevor, Barbara zu erklären, wie und warum er sie in Sicherheit bringen musste.
Gewöhnlich
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