Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
näher.
»Nein! Rühr das nicht an!«
Die Kinder wollten gern die Bilder sehen.
»Fort mit euch!« rief er herrisch.
Und sie verschwanden.
Zunächst ging er auf und ab, mit großen Schritten, das geöffnete Buch in der Hand, die Augen rollend, atemringend, aufgequollen, apoplektisch. Dann schoss er auf seinen Schüler zu, und sich mit verschränkten Armen vor ihm aufpflanzend:
»Du hast wohl alle Laster, du Unglückswurm? … Sieh dich vor, du bist auf einer schiefen Bahn! … Du hast wohl nicht bedacht, dass dies infame Buch in die Finger meiner Kinder geraten könnte, ihr Hirn entzünden, die Reinheit Athalies beflecken, Napoléon verderben! Er ist schon voll entwickelt, wie ein Mann. Bist du wenigstens sicher, dass er es nicht gelesen hat? kannst du mir dafür bürgen?«
»Bitte schön, Monsieur«, unterbrach Emma, »Sie hatten mir etwas zu sagen …?«
»Ja, richtig, Madame … Ihr Schwiegervater ist tot!«
In der Tat war der alte Bovary zwei Tage zuvor, ganz plötzlich, beim Aufstehen vom Tisch an einem Schlaganfall gestorben; und aus übergroßer Rücksicht auf Emmas Empfindlichkeit hatte Charles Monsieur Homais gebeten, ihr die schlimme Nachricht schonend beizubringen.
Er hatte seinen Satz wohlbedacht, er hatte ihn geschliffen, poliert, rhythmisiert; ein Meisterwerk an Vorsicht und an Überleitungen, an delikaten Wendungen und Zartgefühl; der Zorn jedoch hatte alle Rhetorik besiegt.
Emma gab es auf, Näheres zu erfahren, denn Monsieur Homais hatte schon wieder losgelegt mit seinem Geschimpfe. Er beruhigte sich jedoch und brummte jetzt in gönnerhaftem Ton, während er mit seiner griechischen Mütze Luft fächelte:
»Nicht dass ich dieses Werk in Bausch und Bogen verurteile! Der Verfasser war Arzt. Es sind darin manch wissenschaftliche Dinge enthalten, die ein Mann kennen sollte und, fast möchte ich sagen, die ein Mann kennen muss. Aber später, viel später! Warte zumindest, bis du selber ein Mann bist und deine Veranlagung sich herausgebildet hat.«
Auf Emmas Klopfen lief Charles, der sie erwartete, mit ausgebreiteten Armen herbei und sagte, Tränen in der Stimme:
»Ach! meine liebe Freundin …«
Und er beugte sich ein wenig, um sie zu küssen. Doch als seine Lippen sie berührten, kam ihr die Erinnerung an den anderen, und schaudernd fuhr sie sich mit der Hand übers Gesicht.
Dennoch antwortete sie:
»Ja, ich weiß …, ich weiß …«
Er zeigte ihr den Brief, in dem seine Mutter von dem Geschehnis berichtete, ohne jede gefühlsselige Heuchelei. Sie bedauerte nur, dass ihr Gatte den Beistand der Religion nicht empfangen hatte, denn er war in Doudeville gestorben, auf der Straße, vor einem Kaffeehaus, nach einem patriotischen Mahl mit ehemaligen Offizieren.
Emma gab den Brief zurück; beim Abendessen mimte sie dann, aus Anstand, eine gewisse Appetitlosigkeit. Da er sie jedoch mehrmals ermunterte, langte sie herzhaft zu, während Charles ihr starr gegenübersaß, in gedrückter Haltung.
Hin und wieder hob er den Kopf und schaute zu ihr mit einem langen, gequälten Blick. Einmal seufzte er:
»Ich hätte ihn gern noch einmal gesehen!«
Sie schwieg. Endlich wurde ihr klar, dass sie reden musste:
»Wie alt war dein Vater?«
»Achtundfünfzig!«
»Aha!«
Und das war alles.
Eine Viertelstunde später fügte er hinzu:
»Meine arme Mutter? … was soll jetzt aus ihr werden?«
Sie antwortete mit einem Achselzucken.
Da er sie so wortkarg sah, glaubte Charles, sie wäre betrübt, und er zwang sich, nichts zu sagen, um dieses Leid, das ihn rührte, nicht zu verschlimmern. Doch sein eigenes Leid abschüttelnd:
»Hast du dich gestern gut amüsiert?« fragte er.
»Ja.«
Als der Tisch abgeräumt war, stand Bovary nicht auf, Emma ebensowenig; und während sie ihm ins Gesicht schaute, verscheuchte die Monotonie dieses Schauspiels langsam alles Mitgefühl aus ihrem Herzen. Er kam ihr mickerig vor, schwach, eine Null, kurzum, ein armseliger Mann, in jeder Hinsicht. Wie konnte sie ihn loswerden? So ein langer Abend! Etwas Vernebelndes wie Opiumdunst machte sie benommen.
Sie hörten im Vorraum das harte Klopfen eines Knüppels auf den Dielen. Es war Hippolyte, der Madames Gepäck brachte. Um es abzustellen, musste er mit seinem Stumpf mühsam einen Viertelkreis beschreiben.
»Er denkt nicht mal mehr daran!« sagte sie sich und betrachtete den armen Teufel, aus dessen dichtem roten Haar Schweiß tropfte.
Bovary suchte in seinem Geldbeutel nach einem Patard; und ohne dass er zu begreifen
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