Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
einen Ruck, zögerte jedoch, bevor er losging.
»Was suchen Sie?« fragte der Lehrer.
»Meine Mü…«, antwortete zaghaft der Neue mit ängstlich wanderndem Blick.
»Fünfhundert Verse, die ganze Klasse!« mit zorniger Stimme gerufen, unterdrückte, wie das Quos ego , einen neuerlichen Sturm. »Geben Sie doch Frieden!« fuhr der aufgebrachte Lehrer fort und wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch, das er aus seiner Kappe gezogen hatte: »Und Sie, Neuer , Sie schreiben mir zwanzigmal das Verb ridiculus sum .«
Dann, mit sanfterer Stimme:
»Na! Die finden Sie schon wieder, Ihre Mütze; die ist nicht gestohlen!«
Alles wurde ruhig. Die Köpfe beugten sich über Schulmappen, und der Neue saß zwei Stunden in beispielhafter Haltung, obwohl von Zeit zu Zeit das eine oder andere Papierkügelchen aus einer Federspitze geflogen kam und auf sein Gesicht klatschte. Doch er wischte sich mit der Hand ab und verharrte reglos, den Blick gesenkt.
Am Abend, im Arbeitssaal, zog er seine Ärmelschoner aus dem Pult, brachte seine Siebensachen in Ordnung, linierte sorgfältig sein Papier. Wir sahen, wie er gewissenhaft lernte, alle Vokabeln im Wörterbuch nachschlug und sich große Mühe gab. Dem guten Willen, den er an den Tag legte, hatte er es wohl zu verdanken, dass er nicht in die niedrigere Klasse abstieg; denn auch wenn er die Regeln leidlich beherrschte, fehlte ihm doch jede Eleganz im Ausdruck. Der Pfarrer seines Dorfes hatte ihm Grundkenntnisse in Latein beigebracht, da seine Eltern ihn aus Sparsamkeit erst möglichst spät auf die Schule schicken wollten.
Sein Vater, Monsieur Charles-Denis-Bartholomé Bovary, ehemaliger Hilfschirurg der Armee, um 1812 in eine Affäre bei Truppenaushebungen verstrickt und um dieselbe Zeit gezwungen, den Dienst zu quittieren, hatte sich damals seine persönlichen Vorzüge zunutze gemacht, um nebenbei eine Mitgift von sechzigtausend Franc einzustreichen, die sich in Gestalt der Tochter eines Wirk- und Strickwarenhändlers darbot, denn diese hatte sich in seine elegante Erscheinung verliebt. Ein stattlicher Mann, Angeber mit laut klirrenden Sporen, einem Backenbart, der in den Schnauzer überging, stets glitzernde Ringe an den Fingern und in auffällige Farben gekleidet, wirkte er wie ein kühner Recke mit der aufgeräumten Laune eines Handlungsreisenden. Nach der Heirat lebte er zwei oder drei Jahre vom Vermögen seiner Frau, dinierte gut, erhob sich spät, rauchte aus großen Porzellanpfeifen, ging abends erst nach dem Theater heim und besuchte regelmäßig Kaffeehäuser. Der Schwiegervater starb und hinterließ wenig; er war empört, stürzte sich ins Geschäft , verlor ein bisschen Geld und zog sich zurück aufs Land, das er bewirtschaften wollte. Da er von Ackerbau jedoch genauso wenig verstand wie von bedruckten Baumwollstoffen, seine Pferde ritt, anstatt sie zum Pflügen aufs Feld zu schicken, seinen Apfelwein flaschenweise trank, anstatt ihn fassweise zu verkaufen, das schönste Geflügel auf seinem Hof verspeiste und die Jagdstiefel mit dem Speck seiner Schweine einfettete, merkte er bald, dass es besser war, Schluss zu machen mit dem Spekulieren.
Für zweihundert Franc Miete jährlich fand er in einem Dorf, an der Grenze zwischen Pays de Cau und Picardie, eine Bleibe, halb Bauernhof, halb Gutshaus; und griesgrämig, von Reue geplagt, den Himmel verklagend, neidisch auf alle Welt, igelte er sich mit fünfundvierzig Jahren ein, angewidert von den Menschen, sagte er, und entschlossen, in Frieden zu leben.
Seine Frau war dereinst nach ihm verrückt gewesen; sie hatte ihn geliebt mit tausend Unterwürfigkeiten, die ihn noch stärker von ihr entfernt hatten. Früher einmal fröhlich, offenherzig und liebevoll, war sie mit zunehmendem Alter (so wie abgestandener Wein zu Essig) unverträglich geworden, zänkisch, nervös. Zuerst hatte sie viel gelitten, ohne zu klagen, wenn sie ihn allen Dorfschlampen hinterherlaufen sah und die zahllosen Spelunken ihn ihr abends zurückschickten, stumpf und stinkend vom Suff! Dann hatte ihr Stolz rebelliert. Von nun an hatte sie geschwiegen, ihre Wut heruntergeschluckt mit stummem Gleichmut, und den bewahrte sie bis zu seinem Tod. Sie war ständig unterwegs, geschäftig. Sie lief zu den Anwälten, zum Gerichtspräsidenten, wusste stets, wann ein Wechsel fällig war, erwirkte Aufschübe; und zu Hause bügelte sie, nähte, wusch, überwachte die Arbeiter, zahlte die Rechnungen, während Monsieur, der sich um nichts scherte, der immerzu in
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