Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
verdattert stand der Schweizer da und konnte diese unangebrachte Freigebigkeit nicht begreifen, wo dem Fremden noch so viel zu sehen blieb. Drum rief er ihn zurück:
»He! Monsieur. Der Helm! der Helm! …«
»Besten Dank«, erwiderte Léon.
»Monsieur haben unrecht! Er wird einmal vierhundertvierzig Fuß messen, neun weniger als die große Pyramide von Ägypten. Er ist ganz aus Gusseisen, er …«
Léon entfloh; denn ihm schien, seine Liebe, die seit nahezu zwei Stunden in dieser Kirche den Steinen gleich erstarrt war, könnte sich nun verziehen wie Rauch, durch diesen Rohrstumpf, diesen langgezogenen Käfig, diesen durchbrochenen Schornstein, der so grotesk auf der Kathedrale hockt wie das närrische Versuchsobjekt eines überspannten Kesselschmieds.
»Wo gehen wir hin?« fragte sie.
Wortlos eilte er weiter mit raschem Schritt, und schon tauchte Madame Bovary den Finger ins geweihte Wasser, da hörten sie hinter sich ein lautes Schnaufen, begleitet vom regelmäßigen Klopfen eines Stocks. Léon drehte sich um.
»Monsieur!«
»Was?«
Und er sah den Schweizer, der unterm Arm und gegen seinen Bauch gestemmt etwa zwanzig dicke broschierte Bände balancierte. Lauter Werke, die von der Kathedrale handelten .
»Esel!« brummte Léon und stürzte aus der Kirche.
Ein kleiner Junge trödelte auf dem Vorplatz.
»Schnell, hol mir einen Fiaker!«
Das Kind sauste los, durch die Rue des Quatre-Vents; nun standen sie ein paar Minuten allein, Aug in Aug und leicht verlegen.
»Ach! Léon! … Wirklich …, ich weiß nicht … ob ich das soll …!«
Sie kokettierte. Dann, in ernstem Ton:
»Es schickt sich gar nicht, wissen Sie?«
»Warum nicht?« entgegnete der Kanzlist. »Das ist so üblich in Paris.«
Und dieses Wort, wie ein unwiderstehliches Argument, überzeugte sie.
Aber der Fiaker kam nicht. Léon hatte Angst, sie könnte zurück in die Kirche laufen. Endlich erschien der Fiaker.
»Gehen Sie doch wenigstens durch das Nordportal!« rief der Schweizer, der immer noch auf der Schwelle stand, »damit Sie die Auferstehung sehen, das Jüngste Gericht , das Paradies , den König David und die Verdammten im Höllenfeuer.«
»Wohin fahren wir, Monsieur?« fragte der Kutscher.
»Wohin Sie wollen!« sagte Léon und schubste Emma in die Droschke.
Und die schwere Maschinerie setzte sich in Gang.
Sie holperte durch die Rue Grand-Pont, überquerte die Place des Arts, den Quai Napoléon, den Pont-Neuf und hielt abrupt vor der Statue des Pierre Corneille.
»Weiter!« sagte eine Stimme aus dem Inneren.
Die Droschke ratterte wieder los, brauste vom Carrefour La Fayette die abschüssige Straße hinab und landete in gestrecktem Galopp vor der Eisenbahnstation.
»Nein, geradeaus!« rief dieselbe Stimme.
Der Fiaker steuerte aus der Einfriedung und trabte, auf dem Cours angelangt, gemächlich zwischen hohen Ulmen. Der Kutscher wischte sich die Stirn, klemmte den Lederhut zwischen die Beine und dirigierte die Droschke aus den Seitenalleen, zum Wasser hinunter, bis an die Grasflächen.
Sie folgte dem Flussufer auf dem schotterbestreuten Treidelpfad und fuhr lange so weiter in Richtung Oyssel, bis hinter die Inseln.
Plötzlich aber stürmte sie drauflos, durch Quatremares, Sotteville, die Grande-Chaussée, die Rue d’Elbeuf, und machte ihren dritten Halt vor dem Jardin des Plantes.
»Vorwärts, vorwärts!« schrie nun die Stimme viel zorniger.
Und sogleich ging es weiter, und sie rumpelte durch Saint-Sever, über den Quai des Curandiers, über den Quai aux Meules, noch einmal über die Brücke, über die Place du Champ-de-Mars und vorbei hinter den Gärten des Hospitals, wo schwarzberockte Greise in der Sonne spazieren, auf einer von grünem Efeu umrankten Terrasse. Sie rollte den Boulevard Bouvreuil hinauf, durchwanderte den Boulevard Cauchoise, schließlich den ganzen Mont-Riboudet bis zur Anhöhe von Deville.
Sie machte kehrt; und jetzt stromerte sie, ohne Plan, ohne Ziel, auf gut Glück durch die Gegend. Man erblickte sie in Saint-Pol, in Lescure, in Mont Gargan, in La Rouge-Mare und auf der Place du Gaillardbois; in der Rue Maladrerie, in der Rue Dinanderie, vor Saint-Romain, Saint-Vivien, Saint-Maclou, Saint-Nicaise – vor dem Zollamt – an der Basse-Vieille-Tour, in Les Trois-Pipes und am Cimetière Monumental. Von Zeit zu Zeit warf der Kutscher auf seinem Bock verzweifelte Blicke nach den Wirtshäusern. Er begriff nicht, welche Bewegungsgier diese zwei Menschen dazu trieb, nicht mehr anhalten zu wollen. Es
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