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Madame Bovary

Madame Bovary

Titel: Madame Bovary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustave Flaubert
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Rachgier, Eifersucht, Angst, Mitleid
und Erstaunen entströmen gleichzeitig ihren aufgerissenen Mündern.
Der wütende Liebhaber schwingt seinen blanken Degen. Der
Spitzenkragen wogt ihm auf der schwer atmenden Brust auf und
nieder, während er mächtigen Schritts in seinen sporenklirrenden
Stulpenstiefeln über die Bühne schreitet.
    »Er muß eine unerschöpfliche Liebe in sich tragen,« dachte Emma,
»daß er sie an die Menge so verschwenden kann.« Ihre Anwandlung von
Geringschätzigkeit schwand vor dem Zauber seiner Rolle. Sie fühlte
sich zu dem Menschen hingezogen, der sie unter dieser Gestalt
berauschte. Sie versuchte, sich sein Leben vorzustellen, sein
bewegtes, ungewöhnliches, glänzendes Leben, an dem sie hätte
teilnehmen können, wenn es der Zufall gefügt hätte. Warum hatten
sie sich nicht kennen gelernt und sich ineinander verliebt! Sie
wäre mit ihm durch alle Länder Europas gereist, von Hauptstadt zu Hauptstadt, hätte mit ihm Mühen und
Erfolge geteilt, die Blumen aufgelesen, die man ihm streute, und
seine Bühnenkostüme eigenhändig gestickt. Alle Abende hätte sie, im
Dunkel einer Loge, hinter vergoldetem Gitter aufmerksam den Sängen
seiner Seele gelauscht, die einzig und allein ihr gewidmet wären.
Von der Szene, beim Singen, hätte er zu ihr geschaut….
    Sie erschrak und ward verwirrt. Der Sänger sah zu ihr hinauf.
Kein Zweifel! Sie hätte zu ihm hinstürzen mögen, in seine Arme, in
seine Umarmung fliehen, als sei er die Verkörperung der Liebe, und
ihm laut zurufen:
    »Nimm mich, entführe mich! Komm! Ich gehöre dir, nur dir! Dir
gelten alle meine Träume, mein ganzes heißes Herz!«
    Der Vorhang fiel.
    Gasgeruch erschwerte das Atmen, und das Fächeln der Fächer
machte die Luft noch unerträglicher. Emma wollte die Loge
verlassen, aber die Gänge waren durch die vielen Menschen
versperrt. Sie sank in ihren Sessel zurück. Sie bekam Herzklopfen
und Atemnot. Da Karl fürchtete, sie könne ohnmächtig werden, eilte
er nach dem Büfett, um ihr ein Glas Mandelmilch zu holen.
    Er hatte große Mühe, wieder nach der Loge zu gelangen. Das Glas
in beiden Händen, rannte er bei jedem Schritte, den er tat,
jemanden mit den Ellenbogen an. Schließlich goß er dreiviertel des
Inhalts einer Dame in ausgeschnittener Toilette über die Schulter.
Als sie das kühle Naß, das ihr den Rücken hinabrann, spürte, schrie
sie laut auf, als ob man ihr ans Leben wolle. Ihr Gatte, ein
Rouener Seifenfabrikant, ereiferte sich über diese Ungeschicktheit.
Während seine Frau mit dem Taschentuche die Flecke von ihrem
schönen roten Taftkleide abtupfte, knurrte er wütend etwas von
Schadenersatz, Wert und Bezahlen. Endlich kam Karl glücklich bei Emma wieder an. Gänzlich außer
Atem berichtete er ihr:
    »Weiß Gott, beinahe hätt ich mich nicht durchgewürgt! Nein,
diese Menschheit! Diese Menschheit!« Nach einigem Verschnaufen
fügte er hinzu: »Und ahnst du, wer mir da oben begegnet ist?
Leo!«
    »Leo?«
    »Jawohl! Er wird gleich kommen, dir guten Tag zu sagen!«
    Er hatte diese Worte kaum ausgesprochen, als der Adjunkt auch
schon in der Loge erschien. Mit weltmännischer Ungezwungenheit
reichte er ihr die Hand. Mechanisch streckte Frau Bovary die ihrige
aus, wie im Banne eines stärkeren Willens. Diesen fremden Einfluß
hatte sie lange nicht empfunden, seit jenem Frühlingsnachmittage
nicht, an dem sie voneinander Abschied genommen. Sie hatte am
Fenster gestanden, und draußen war leiser Regen auf die Blätter
gefallen. Aber rasch besann sie sich auf das, was die jetzige
Situation und die Konvenienz erheischten. Mit aller Kraft
schüttelte sie den alten Bann und die alten Erinnerungen von sich
ab und begann ein paar hastige Redensarten zu stammeln:
    »Ach, guten Tag! Wie? Sie hier?«
    »Ruhe!« ertönte eine Stimme im Parkett. Inzwischen hatte nämlich
der dritte Akt begonnen.
    »So sind Sie also in Rouen?«
    »Ja, gnädige Frau!«
    »Und seit wann?«
    »Hinaus! Hinaus!«
    Alles drehte sich nach ihnen um. Sie verstummten.
    Von diesem Augenblick war es mit Emmas Aufmerksamkeit vorbei.
Der Chor der Hochzeitsgäste, die Szene zwischen Ashton und seinem
Diener, das große Duett in D-Dur, alles das spielte sich für sie wie in großer Entfernung ab. Es war ihr,
als klänge das Orchester nur noch gedämpft, als sängen die Personen
ihr weit entrückt. Sie dachte zurück an die Spielabende im Hause
des Apothekers, an den Gang zu der Amme ihres Kindes, an das
Vorlesen in der Laube, an die Plauderstunden zu zweit am

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