Madame Bovary
gegangen war. Der
Straßenlärm hallte nur schwach zu ihnen herauf, und die Enge des
Zimmers schien ihr Alleinsein noch traulicher zu machen. Emma trug
ein Morgenkleid aus leichtem Stoff; sie lehnte ihren Kopf gegen den
Rücken des alten Lehnstuhls, in dem sie saß. Hinter ihr die gelbe
Tapete umgab sie wie mit Goldgrund, und ihr bloßer Kopf mit dem
schimmernden Scheitel, der ihre Ohren beinahe ganz verdeckte,
wiederholte sich wie ein Gemälde im Spiegel.
»Ach, verzeihen Sie!« sagte sie. »Es ist unrecht von mir, Sie
mit meinen ewigen Klagen zu langweilen.«
»Keineswegs!«
»Wenn Sie wüßten,« fuhr sie fort und schlug ihre
schönen Augen, aus denen Tränen rollten,
zur Decke empor, »was ich mir alles erträumt habe!«
»Und ich erst! Ach, ich habe so sehr gelitten! Oft bin ich
ausgegangen, still für mich hin, und hab mich die Kais entlang
geschleppt, nur um mich im Getriebe der Menge zu zerstreuen und die
trüben Gedanken loszubekommen, die mich in einem fort verfolgten.
In einem Schaufenster eines Kunsthändlers auf dem Boulevard habe
ich einmal einen italienischen Kupferstich gesehen, der eine Muse
darstellt. Sie trägt eine Tunika, einen Vergißmeinnichtkranz im
offnen Haar und blickt zum Mond empor. Irgend etwas trieb mich
immer wieder dorthin. Oft hab ich stundenlang davor gestanden…« Und
mit zitternder Stimme fügte er hinzu: »Sie sah Ihnen ein wenig
ähnlich.«
Frau Bovary wandte sich ab, damit er das Lächeln um ihre Lippen
nicht bemerke, das sie nicht unterdrücken konnte.
»Und wie oft«, fuhr er fort, »habe ich an Sie Briefe geschrieben
und hinterher wieder zerrissen.«
Sie antwortete nicht.
»Manchmal bildete ich mir ein, irgendein Zufall müsse Sie mir
wieder in den Weg führen. Oft war es mir, als ob ich Sie an der
nächsten Straßenecke treffen sollte. Ich bin hinter Droschken
hergelaufen, aus denen ein Schal oder ein Schleier flatterte, wie
Sie welche zu tragen pflegen…«
Sie schien sich vorgenommen zu haben, ihn ohne Unterbrechung
reden zu lassen. Sie hatte die Arme gekreuzt und betrachtete
gesenkten Hauptes die Rosetten ihrer Hausschuhe, auf deren Atlas
die kleinen Bewegungen sichtbar wurden, die sie ab und zu mit den
Zehen machte.
Endlich sagte sie mit einem Seufzer:
»Ist es nicht das Allertraurigste, ein unnützes Leben so wie ich
führen zu müssen? Wenn unsere Schmerzen wenigstens
jemandem nützlich wären, dann könnte man
sich doch in dem Bewußtsein trösten, sich für etwas zu opfern.«
Er pries die Tugend, die Pflicht und das stumme Sichaufopfern.
Er selbst verspüre eine unglaubliche Sehnsucht, ganz in etwas
aufzugehen, die er nicht befriedigen könne.
»Ich möchte am liebsten Krankenschwester sein«, behauptete
sie.
»Ach ja!« erwiderte er. »Aber für uns Männer gibt es keinen
solchen barmherzigen Beruf. Ich wüßte keine Beschäftigung … es sei
denn vielleicht die des Arztes…«
Emma unterbrach ihn mit einem leichten Achselzucken und begann
von ihrer Krankheit zu sprechen, an der sie beinah gestorben wäre.
Wie schade! meinte sie, dann brauche sie jetzt nicht mehr zu
leiden. Sofort schwärmte Leo für die ›Ruhe im Grabe‹. Ja, er hätte
sogar eines Abends sein Testament niedergeschrieben und darin
bestimmt, daß man ihm in den Sarg die schöne Decke mit der
Seidenstickerei legen solle, die er von ihr geschenkt bekommen
hatte. Nach dem, wie alles hätte sein können, also nach einem
imaginären Zustand, änderten sie jetzt in der Erzählung ihre
Vergangenheit. Ist doch die Sprache immer ein Walzwerk, das die
Gefühle breitdrückt.
Bei dem Märchen von der Reisedecke fragte sie:
»Warum denn?«
»Warum?« Er zögerte. »Weil ich Sie so zärtlich geliebt
habe!«
Froh, die größte Schwierigkeit überwunden zu haben, beobachtete
Leo Emmas Gesicht von der Seite. Es leuchtete wie der Himmel, wenn
der Wind plötzlich eine Wolkenschicht, die darüber war, zerreißt.
Die vielen traurigen Gedanken, die es verdunkelt hatten, waren aus
ihren Augen wie weggeweht.
Er wartete. Endlich sagte sie:
»Ich hab es immer geahnt…«
Nun begannen sie von den kleinen Begebnissen
jener fernen Tage einander zu erzählen, von allem Freud und Leid,
das sie soeben in ein einziges Wort zusammengefaßt hatten. Er
erinnerte sich der Wiege aus Tannenholz, ihrer Kleider, der Möbel
in ihrem Zimmer, ihres ganzen Hauses.
»Und unsere armen Kakteen, was machen die?«
»Sie sind letzten Winter alle erfroren!«
»Ach, wie oft hab ich an sie zurückgedacht. Das glauben Sie
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