Madame Bovary
über die
Kosten. Es waren zwei Studenten der medizinischen Hochschule, ein
Adjunkt und ein Verkäufer. Was für eine Gesellschaft für eine Dame!
Und die weiblichen Wesen? An ihrer Ausdrucksweise merkte Emma gar
bald, daß sie fast alle der untersten Volksschicht angehören
mußten. Nun begann sie sich zu ängstigen. Sie rückte mit ihrem
Sessel beiseite und schlug die Augen nieder.
Die andern begannen zu tafeln. Emma aß nichts. Ihre Stirn
glühte, ihre Augenlider zuckten, und ein kalter Schauer rieselte
ihr über die Haut. In ihrem Hirn dröhnte noch der Lärm des
Tanzsaals; es war ihr, als stampften tausend Füße im Takte um sie
herum. Dazu betäubte sie der Zigarrenrauch und der Duft des
Punsches. Sie wurde ohnmächtig. Man trug sie ans Fenster.
Der Morgen dämmerte. Hinter der Sankt-Katharinen-Höhe stand ein
breiter Purpurstreifen auf dem bleichen Himmel. Vor ihr rann der
graue Strom, im Winde erschauernd. Kein Mensch war auf den Brücken.
Die Laternenlichter verblichen.
Sie erholte sich allmählich und dachte an ihre Berta, die fern
in Yonville schlief, im Zimmer des Mädchens. Ein Wagen voll langer
Eisenstangen fuhr unten vorüber; das Metall vibrierte in
eigentümlichen Tönen….
Da stahl sie sich in plötzlichem Entschlusse fort. Sie ließ Leo
und kam allein zurück in den Boulogner Hof. Alles, selbst ihr
eigner Körper war ihr unerträglich. Sie hätte fliegen mögen, sich
wie ein Vogel hoch emporschwingen und sich rein baden im
kristallklaren Äther.
Nachdem sie sich ihres Kostüms entledigt hatte, verließ sie den
Gasthof und ging über den Boulevard, den Causer Platz, durch die
Vorstadt, bis zu einer freien Straße mit Gärten. Sie ging rasch.
Die frische Luft beruhigte sie. Nach und nach vergaß sie die
lärmende Menge, die Masken, die Tanzmusik,
das Lampenlicht, das Souper, die Dirnen. Alles war weg wie der
Nebel im Winde. Im »Roten Kreuz« angekommen, warf sie sich aufs
Bett. Es war in demselben Zimmer des zweiten Stocks, wo ihr Leo
damals seinen ersten Besuch gemacht hatte. Um vier Uhr nachmittags
ward sie von Hivert geweckt.
Zu Haus zeigte ihr Felicie ein Schriftstück, das hinter der Uhr
steckte. Emma las:
»Beglaubigte Abschrift. Urteilsausfertigung …« Sie hielt inne.
»Was für ein Urteil?« Sie besann sich.
Etliche Tage vorher war ein andres Schriftstück abgegeben
worden, das sie ungelesen beiseitegelegt hatte. Erschrocken las sie
weiter:
»
Im Namen des Königs!
…« Sie übersprang einige
Zeilen. »… binnen einer Frist von vierundzwanzig Stunden …
achttausend Franken …« Und unten: »Vorstehende Ausfertigung wird …
zum Zwecke der Zwangsvollstreckung erteilt …«
Was sollte sie dagegen tun? Binnen vierundzwanzig Stunden!
»Die sind morgen abgelaufen!« sagte sie sich. »Unsinn! Lheureux
will mir nur angst machen!«
Mit einem Male aber durchschaute sie alle seine Machenschaften,
den Endzweck aller seiner Gefälligkeiten. Das einzige, was sie
etwas beruhigte, war gerade die enorme Höhe der Schuldsumme. Durch
ihre fortwährenden Käufe, ihr Nichtbarbezahlen, die Darlehen, das
Ausstellen von Wechseln, die Zinsen, die Prolongationen,
Provisionen usw. waren ihre Schulden bis zu dieser Höhe angelaufen.
Lheureux wartete auf dieses Geld ungeduldig. Er brauchte es zu
neuen Geschäften.
Mit unbefangener Miene trat Emma in sein Kontor.
»Wissen Sie, was mir da zugefertigt worden ist? Das ist wohl ein
Scherz!«
»Bewahre!«
»Wieso aber?«
Er wandte sich ihr langsam zu, verschränkte die Arme und
sagte:
»Haben Sie sich wirklich eingebildet, meine Verehrteste, daß ich
bis zum Jüngsten Tage Ihr Hoflieferant und Bankier bliebe? Für
nichts und wieder nichts? Es ist vielmehr die höchste Zeit, daß ich
mein Geld zurückkriege! Das werden Sie doch einsehen!«
Sie bestritt die Höhe der Schuldsumme.
»Ja, das tut mir leid!« erwiderte der Händler. »Das Gericht hat
die Forderung anerkannt. Gegen den Schuldtitel ist nichts zu
machen. Sie haben ja die Vorladung bekommen! Übrigens bin ich nicht
der Kläger, sondern Vinçard.«
»Könnten Sie denn nicht….«
»Ich kann gar nichts!«
»Aber … sagen Sie … überlegen wir uns einmal….«
Sie redete hin und her. Sie habe nicht gewußt, sie sei
überrascht Worden….
»Ist das denn meine Schuld?« fragte Lheureux mit einer
höhnischen Geste. »Während ich mich hier abplagte, haben Sie
herrlich und in Freuden gelebt!«
»Wollen Sie mir eine Moralpredigt halten?«
»Das könnte nichts schaden!«
Sie wurde feig
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