Madame Bovary
stünden in den
Falten seiner Stirn stumme Anklagen wider sie. Aber wenn ihre
Blicke den chinesischen Ofenschirm streiften oder die breiten
Gardinen oder die Lehnsessel, kurz alle die Dinge, mit denen sie
sich die Armseligkeit ihres Lebens verschönt hatte, fühlte sie kaum
einen Moment Reue, hingegen ein grenzenloses Mitleid mit sich
selber, das ihre Wünsche eher noch anfachte als unterdrückte.
Karl saß friedlich am Kamin und fühlte sich höchst behaglich.
Einmal rumorte der Gerichtsdiener, der sich in seinem Käfige
langweilte.
»Ging da nicht oben einer?« fragte Karl.
»Nein!« beschwichtigte sie ihn. »Da war wahrscheinlich ein
Dachfenster offen, und der Wind hat es zugeschlagen.«
Am andern Tag, einem Sonntag, fuhr sie früh nach Rouen, wo sie
alle Bankiers aufsuchte, die sie dem Namen nach kannte. Die meisten
waren auf dem Lande oder auf Reisen. Aber sie ließ sich nicht
abschrecken und ging die Anwesenden um Geld an, indem sie
beteuerte, sie brauche es und wolle es pünktlich zurückzahlen.
Einige lachten ihr ins Gesicht. Alle wiesen sie ab.
Um zwei Uhr lief sie zu Leo und klopfte an seiner Türe. Es
öffnete niemand. Endlich kam er von der Straße her.
»Was führt dich her?«
»Störe ich dich?«
»Nein … aber….«
Er gestand, sein Wirt sähe es nicht gern, wenn man »Damen« bei
sich empfinge.
»Ich muß dich sprechen!« sagte sie.
Da nahm er den Schlüssel, aber sie hinderte ihn am
Aufschließen.
»Nein! Nicht hier! Bei uns!«
Sie gingen nach dem Boulogner Hof in ihr Zimmer.
Emma trank zunächst ein großes Glas Wasser. Sie war ganz bleich.
Dann sagte sie:
»Leo, du wirst mir einen Dienst erweisen!«
Sie faßte seine Hände, drückte sie fest und fügte hinzu:
»Hör mal: ich brauche achttausend Franken!«
»Du bist verrückt!«
»Noch nicht!«
Nun erzählte sie ihm rasch die Geschichte der Pfändung und
klagte ihm ihre Notlage. Karl wisse von nichts; mit ihrer
Schwiegermutter stehe sie auf gespanntem Fuße, und ihr Vater könne
ihr wirklich nicht helfen. Doch er, Leo, müsse ihr diese unbedingt
nötige Summe schleunigst verschaffen.
»Wie soll ich das?«
»Du willst bloß nicht!« sagte sie aufgeregt.
Er stellte sich dumm:
»Es wird nicht so gefährlich sein! Mit tausend Talern wird der
Biedermann schon zufrieden sein!«
»Vielleicht. Schaff sie mir nur!« sagte sie. Dreitausend Franken
seien allemal aufzutreiben! Leo möge sie doch einstweilen auf
seinen Namen aufnehmen.
»Geh! Versuchs! Es muß sein! Schnell! Schnell! Ich will dich
dafür auch recht liebhaben!«
Er ging und kam nach einer Stunde zurück.
Mit einem Gesicht, als ob er wer weiß was zu verkünden hätte, sagte
er:
»Ich war bei drei Personen … umsonst!«
Darauf saßen sie einander gegenüber am Kamin, regungslos, ohne
zu sprechen. Emma zuckte mit den Achseln und trippelte vor Ungeduld
mit den Füßen. Er hörte, wie sie ganz leise sagte:
»Wenn ich an deiner Stelle wäre, ich wüßte, wo ich das Geld
auftriebe!«
»Wo denn?«
»In eurer Kanzlei!«
Sie sah ihn starr an.
Aus ihren fiebernden Augen sprach ein wilder Dämon. Zwischen
ihren sich berührenden Wimpern lockten Sinnlichkeit und Sünde so
stark, daß der junge Mann unter der stummen Verführungskraft dieses
Weibes, das ihn zum Verbrecher machen wollte, nahe daran war, zu
erliegen. Er fühlte seine Schwachheit. Jähe Furcht ergriff ihn, und
um jeder weiteren Erörterung zu entgehen, schlug er sich vor die
Stirn und rief aus:
»Morel kommt ja heute nacht zurück!« Morel war ein Freund von
ihm, der Sohn eines sehr wohlhabenden Kaufmanns. »Der schlägts mir
nicht ab! Ich werde dir das Geld morgen vormittag bringen.«
Offenbar machte seine Zuversicht auf Emma einen viel weniger
freudigen Eindruck, als er erwartet hatte. Durchschaute sie seine
Lüge?
Errötend fuhr er fort:
»Wenn ich morgen bis drei Uhr nicht bei dir sein sollte, dann
warte nicht länger auf mich, Schatz! Jetzt muß ich aber wirklich
fort! Entschuldige mich! Lebwohl!«
Er drückte ihr die Hand, die schlaff in der seinen lag. Emma
hatte alle Kraft verloren….
Als es vier Uhr schlug, stand sie auf, um
nach Yonville zurückzufahren. Nichts mehr trieb sie als die
Gewohnheit.
Das Wetter war prächtig. Ein klarer kalter Märztag. Die Sonne
strahlte auf einem kristallreinen Himmel. Sonntäglich gekleidete
Bürger gingen mit zufriedenen Gesichtern spazieren. Als Emma den
Notre-Dame-Platz überschritt, war die Vesper gerade zu Ende. Die
Menge strömte aus den drei Türen des
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