Madame Bovary
meine solche,« fuhr Emma fort, und ihre Mundwinkel
zitterten, während sie sprach, »solche, Herr Pfarrer, die zwar ihr
täglich Brot haben, aber kein …«
»Kein Holz im Winter …«, ergänzte der Priester.
»Ach, was liegt daran?«
»Was daran liegt? Mich dünkt, wer gut zu essen hat und eine
warme Stube … denn schließlich …«
»O du mein Gott!« seufzte Emma.
»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte er, indem er sich ihr besorgt
näherte. »Gewiß Magenbeschwerden? Sie müssen heimgehen, Frau
Bovary, und eine Tasse Tee trinken! Das wird Sie kräftigen. Oder
vielleicht lieber eine Limonade?«
»Wozu?«
Sie sah aus, als erwache sie aus einem Traume.
»Sie faßten mit der Hand nach Ihrer Stirn, und da glaubte ich,
es sei Ihnen schwindlig.« Er besann sich. »Aber wollten Sie mich
nicht etwas fragen? Mir ist es so. Was war es denn?«
»Ich? Nichts … oh, nichts!« stammelte Emma.
Ihr Blick, der in der Ferne verweilt hatte, fiel müd auf den
alten Mann in der Soutane. Sie sahen sich beide in die Augen, ohne
etwas zu sagen.
»Dann entschuldigen Sie, Frau Bovary«, sagte
er nach einer Weile. »Die Pflicht ruft mich. Ich muß zu meinen
Taugenichtsen da. Die erste Kommunion rückt heran. Ich fürchte, sie
überrumpelt uns. Seit Himmelfahrt behalte ich die Kinder alle
Mittwoch eine Stunde länger hier. Die armen Kleinen! Man kann sie
nicht früh genug auf den Weg des Herrn leiten, wie es Gottes Sohn
uns ja anbefohlen hat … Recht gute Besserung, Frau Doktor!
Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrem Herrn Gemahl!«
Damit trat er in die Kirche, nachdem er an der Schwelle das Knie
gebeugt hatte. Emma sah ihm nach, bis er zwischen den Bänken
verschwand. Er ging schwerfällig, den Kopf ein wenig eingezogen,
die beiden Hände in segnender Haltung.
Sie wandte sich um, mit einem kurzen Ruck. wie eine Figur auf
einer Drehscheibe, und schickte sich an, nach Hause zu gehen. Eine
Weile hörte sie hinter sich noch die rauhe Stimme des Geistlichen
und die hellen Antworten der Knaben….
»Bist du ein Christ?«
»Ja, ich bin ein Christ.«
»Wer ist ein Christ?«
»Wer getauft ist und …«
Zu Haus stieg sie die Treppe hinauf, wobei sie sich am Geländer
festhielt. In ihrem Zimmer angekommen, sank sie in ihren
Lehnstuhl.
Das Licht des hellen Abends draußen flutete weich durch die
Scheiben herein. Die Möbel schlummerten still auf ihren Plätzen,
halb versunken in den Schatten der Dämmerung wie in einen schwarzen
Weiher. Im Kamin war die Glut erloschen, und eintönig tickte die
Uhr immerzu. Diese Ruhe der Dinge hier um sich herum empfand Emma
als einen wunderlichen Kontrast zu dem wilden Sturm in ihrem
Innern….
Vom Nähtischfenster her tappte die kleine Berta in ihren
gewirkten Schuhchen und versuchte zu ihrer
Mutter zu gelangen. Sie haschte nach den Bändern ihrer Schürze.
»Laß mich!« sagte Emma und wehrte das Kind mit der Hand ab.
Aber die Kleine kam noch näher und schmiegte sich an ihre Knie.
Sie umfaßte sie mit ihren Ärmchen und schaute mit ihren großen
blauen Augen zur Mutter auf. Dabei liefen ein paar Tropfen Speichel
aus dem Munde des Kindes auf Emmas seidne Schürze.
»Laß mich!« wiederholte die junge Mutter sehr unwillig.
Ihr Gesichtsausdruck erschreckte das Kind. Es begann zu
schreien.
»Aber so laß mich doch!« sagte Emma barsch und stieß ihr Kind
mit dem Ellenbogen zurück.
Berta fiel gegen die Kommode, gerade auf den Messingbeschlag,
der ihr die Wange ritzte, so daß sie blutete. Frau Bovary stürzte
auf das Kind zu und hob es auf. Dann riß sie heftig am Klingelzug
und rief das Dienstmädchen herbei. Sie war nahe daran, sich
Vorwürfe zu machen, da erschien Karl. Es war um die Essenszeit. Er
kam von seiner Praxis heim.
»Sieh, mein Lieber,« sagte sie ruhigen Tones, »die Kleine ist
beim Spielen gefallen und hat sich ein bißchen geschunden.«
Karl beruhigte sie; es sei nicht schlimm. Er holte
Heftpflaster.
Frau Bovary ging zum Essen nicht hinunter. Sie wollte ihr Kind
allein pflegen. Als sie dann aber sah, wie es ruhig schlief,
verging ihr bißchen Beunruhigung, und sie kam sich selber recht
töricht und schlapp vor, weil sie sich wegen einer Geringfügigkeit
gleich so aufgeregt habe. In der Tat klagte die Kleine nicht mehr.
Ihre Atemzüge hoben und senkten die wollene Bettdecke kaum merkbar.
Ein paar dicke Tränen hingen ihr in den halbgeschlossenen Wimpern,
durch die zwei tiefliegende blasse Augensterne schimmerten. Das auf
die Backe geklebte Pflaster verzog die
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