Madame Bovary
gar
selber noch Mühe gab, so zu tun und die Leute in ihrem Glauben zu
lassen.
Manchmal hatte sie diese Komödie satt. Sie fühlte sich versucht,
mit dem Geliebten auf und davon zu gehen, irgendwohin, weit, weit
fort, wo ein andrer Stern ihrer harrte. Zugleich jedoch drohten ihr
in Gedanken riefe, dunkle Abgründe.
»Er liebt mich ja gar nicht mehr!« sagte sie sich. »Was soll da
aus mir werden? Welche Zuflucht, welcher Trost, welche
Erleichterung bleibt mir noch?«
Gebrochen, fiebernd, halbtot schluchzte sie leise vor sich hin,
unter endlosen Tränen.
»Warum sagt es die gnädige Frau nicht dem Herrn Doktor?« fragte
das Dienstmädchen, als es einmal während eines solchen Anfalles ins
Zimmer kam.
»Ach was! Ich bin nervös!« erklärte Emma. »Daß du ihm ja nichts
davon erzählst! Du würdest ihn nur beunruhigen.«
»Ach Gott«, meinte Felicie. »Der Tochter des
alten Fischers Guérin aus Pollet, einer Bekannten von mir in
Dieppe, wo ich vorher gedient habe, der ging es ganz genau so. War
die trübsinnig! Schrecklich trübsinnig! Und leichenblaß sah sie
immer aus. Ihr Leiden war so was wie ein Nebel im Kopfe, und die
Ärzte und sogar der Pfarrer wußten kein Mittel dagegen. Wenns ganz
schlimm kam, dann lief sie immer ganz allein ans Meer. Der
Zollaufseher hat sie auf seiner Patrouille oft gesehen, platt auf
dem Bauche liegen und auf den Steinen weinen. Später, als sie einen
Mann hatte, soll sichs gegeben haben….«
»Bei mir aber«, erwiderte Emma, »ist es erst nach der Hochzeit
so gekommen.«
Kapitel 6
Eines Abends saß Emma am offnen Fenster. Eben hatte sie noch
Lestiboudois, dem Kirchendiener, zugesehen, wie er unten im Garten
den Buchsbaum zugestutzt hatte. Plötzlich drang ihr das
Ave-Maria-Läuten ins Ohr.
Es war Anfang April. Die Primeln blühten, und ein lauer Wind
hüpfte über die aufgeharkten Beete. Der Garten putzte sich für die
Festtage des Sommers. Durch die Latten der Laube und weiterhin
leuchtete der Bach, der sich in schnörkeligen Windungen in den
flachen Wiesen hinwand. Der Abenddunst schwebte um die noch kahlen
Pappeln und löste die Linien ihrer Aste zu weichem Violett auf,
duftig und durchsichtig wie ein feiner Schleier. In der Ferne zogen
Herden heim, aber ihr Huftritt und ihr Brüllen verklangen. Nur die
Abendglocke läutete immerfort und füllte die Luft mit wehmütigem
Frieden.
Bei diesen gleichförmigen Tönen verloren sich die Gedanken der
jungen Frau in alte Jugend- und Klostererinnerungen. Sie dachte an
die hohen Leuchter auf dem Hochaltar, die sich über die
blumenreichen Vasen und über das Tabernakel mit seinen Säulchen
emporgereckt hatten. Wie einst hätte sie wieder knien mögen in der
langen Reihe der weißen Schleier, die sich grell abhoben von den
schwarzen steifen Kapuzen der in ihren Betstühlen hingesunkenen
Schwestern. Sonntags während der Messe, wenn sie aufschaute und in
das von bläulichem Weihrauch umwobene holde Antlitz der Madonna
blickte, dann war sie immer tief ergriffen und ganz weich gestimmt
gewesen, leicht und ohne Last wie eine Flaumfeder, die der
Sturmwind wegweht….
Mit einem Male, ohne daß sie sich über den Vorgang klar
ward, fand sie sich auf dem Wege zur
Kirche. Ein Drang nach Andacht hatte sie ergriffen: ihre Seele
sehnte sich, darin aufzugehen und alles Irdische zu vergessen.
Auf dem Marktplatze begegnete ihr Lestiboudois, der bereits
wieder aus der Kirche kam, um zu seiner unterbrochenen Arbeit
zurückzukehren. Die war ihm immer die Hauptsache, und das Läuten
der Glocke besorgte er, wie es ihm gerade paßte. Übrigens war das
Läuten ein Zeichen für die Kinder im Dorfe, daß es Zeit zur
Katechismusstunde war.
Ein paar Jungen waren schon da und spielten Ball auf den
Friedhofssteinen. Andre saßen rittlings auf der Mauer, baumelten
mit den Beinen und köpften mit ihren Schuhspitzen die hohen
Brennesseln, die zwischen der letzten Gräberreihe und der niedrigen
Umfassungsmauer aufgeschossen waren. Das war das einzige bißchen
Grün, denn die Grabmäler standen ganz dicht aneinander, und über
ihnen lag beständig feiner Staub, der dem reinigenden Besen
trotzte. Die Kinder liefen in Strümpfen darüber wie über einen
eigens für sie hingebreiteten Teppich, und ihre aufjauchzenden
Stimmen mischten sich in das letzte Ausklingen der Glocken. Das
Summen verstummte, und der Strang der großen Glocke, der vom
Kirchturm herabhing und mit dem Ende auf dem Erdboden hin und her
geschleift war, beruhigte sich allmählich. Schwalben
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