Madame Bovary
Insassen auf dem Sitzpolster stand eine rotlederne
Reisetasche, deren Messingschlösser prächtig funkelten. In starkem
Trabe fuhr Canivet bis vor die kleine Freitreppe des Goldnen Löwen.
Mit lauter Stimme befahl er, das Pferd auszuspannen. Er ging mit in
den Stall und überzeugte sich, daß der Gaul ordentlich Hafer
geschüttet bekam. Es war seine Gewohnheit, daß er sich immer zuerst
seinem Tier und seinem Fuhrwerk widmete. Er galt deshalb im Munde
der Leute für einen »Pferdejockel«. Aber gerade weil er sich darin
unabbringbar gleichblieb, schätzte man ihn um so mehr. Und wenn der
letzte Mensch auf Gottes ganzem Erdboden in den letzten Zügen
gelegen hätte: Doktor Canivet wäre zunächst seiner
kavalleristischen Pflicht nachgekommen.
Homais stellte sich ein.
»Ich rechne auf Ihre Unterstützung!« sagte der Chirurg. »Ist
alles bereit? Na, dann kanns losgehen!«
Der Apotheker gestand errötend ein, daß er zu empfindlich sei,
um einer solchen Operation assistieren zu können. »Als passiver
Zuschauer«, sagte er, »greift einen so was doppelt an. Meine Nerven
sind so herunter….«
»Quatsch!« unterbrach ihn Canivet. »Mir machen Sie vielmehr den
Eindruck, als solle Sie demnächst der Schlag rühren. Übrigens kein
Wunder! Ihr Herren Apotheker hockt ja von früh bis abends in Eurer
Giftbude. Das muß sich ja schließlich auf die Nerven legen! Gucken
Sie mich mal an! Tag für Tag stehe ich vier Uhr morgens auf, wasche mich mit eiskaltem
Wasser…. Frieren kenne ich nicht, Flanellhemden gibts für mich
nicht, das Zipperlein kriege ich nicht, und mein Magen ist
mordsgesund. Dabei lebe ich heute so und morgen so, wie mirs gerade
einfällt, aber immer als Lebenskünstler! Und deshalb bin ich auch
nicht so zimperlich wie Sie. Es ist mir total Wurst, ob ich einem
Rebhuhn oder einem christlichen Individuum das Bein abschneide. Sie
haben mir neulich mal gesagt, der Mensch sei ein Gewohnheitstier.
Sehr richtig! Es ist alles bloß Gewohnheit….«
Ohne irgendwelche Rücksicht auf Hippolyt, der nebenan auf seinem
Lager vor Angst schwitzte, führten die beiden ihre Unterhaltung in
diesem Stile weiter. Der Apotheker verglich die Kaltblütigkeit
eines Chirurgen mit der eines Feldherrn. Durch diesen Vergleich
geschmeichelt, ließ sich Canivet des längeren über die
Erfordernisse seiner Kunst aus. Der Beruf des Arztes sei ein
Priesteramt, und wer es nicht als das, sondern als gemeines
Handwerk ausübe, der sei ein Heiligtumschänder.
Endlich erinnerte er sich des Patienten und begann das von
Homais gelieferte Verbandszeug zu prüfen. Es war dasselbe, das
bereits bei der ersten Operation zur Stelle gewesen war. Sodann
erbat er sich jemanden, der das Bein festhalten könne. Lestiboudois
ward geholt.
Der Doktor zog den Rock aus, streifte sich die Hemdsärmel hoch
und begab sich in das Billardzimmer, während der Apotheker in die
Küche ging, wo die Wirtin sowie Artemisia neugierig und ängstlich
warteten. Die Gesichter der beiden Frauen waren weißer als ihre
Schürzen.
Währenddessen wagte sich Bovary nicht aus seinem Hause heraus.
Er saß unten in der Großen Stube, zusammengeduckt und die Hände
gefaltet, im Winkel neben dem Kamin, in dem kein Feuer brannte, und
starrte vor sich hin. »Welch ein Mißgeschick!«
seufzte er. »Was für eine große
Enttäuschung!« Er hatte doch alle denkbaren Vorsichtsmaßregeln
getroffen, und doch war der Teufel mit seiner Hand
dazwischengekommen! Nicht zu ändern! Wenn Hippolyt noch stürbe,
dann wäre er schuld daran! Und was sollte er antworten, wenn ihn
seine Patienten darnach fragten? Sollte er sagen, er habe einen
Fehler begangen? Aber welchen? Er wußte doch selber keinen, so sehr
er auch darüber nachsann. Die berühmtesten Chirurgen versehen sich
einmal. Aber das wird kein Mensch bedenken. Sie werden ihn alle nur
auslachen und in Verruf bringen. Die Sache wird bis Forges ruchbar
werden, bis Neufchâtel, bis Rouen und noch weiter! Vielleicht würde
irgendein Kollege einen Bericht gegen ihn veröffentlichen, dem dann
eine Polemik folgte, die ihn zwänge, in den Zeitungen eine
Entgegnung zu bringen. Hippolyt könnte auf Schadenersatz
klagen.
Karl sah sich entehrt, zugrunde gerichtet, verloren! Seine von
tausend Befürchtungen bestürmte Phantasie schwankte hin und her wie
eine leere Tonne auf den Wogen des Meeres.
Emma saß ihm gegenüber und beobachtete ihn. An seine Demütigung
dachte sie nicht. Ihre Gedanken arbeiteten in andrer Richtung. Wie
hatte sie sich nur einbilden
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