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Madame Bovary

Madame Bovary

Titel: Madame Bovary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustave Flaubert
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können, daß sich ein Mann seines
Schlages zu einer Leistung aufschwänge, wo sich seine Unfähigkeit
doch schon mehr als ein dutzendmal erwiesen hatte!
    Er lief im Zimmer auf und ab. Seine Stiefel knarrten.
    »Setz dich doch!« sagte sie. »Du machst mich noch ganz
verrückt!«
    Er tat es.
    Wie hatte sie es nur fertig gebracht – wo sie doch so klug war!
– , daß sie sich abermals so getäuscht hatte? Aber ja, ihr ganzer
Lebenspfad war doch fortwährend durch das traurige Tal der
Entbehrungen gegangen. Wie vom Wahnwitz geleitet! Sie
rief sich alles einzeln ins Gedächtnis
zurück: ihren unbefriedigten Hang zum Lebensgenuß, die Einsamkeit
ihrer Seele, die Armseligkeit ihrer Ehe, ihres Hausstandes, ihre
Träume und Illusionen, die in den Sumpf hinabgefallen waren wie
verwundete Schwalben. Sie dachte an alles das, was sie sich
ersehnt, an alles, was sie von sich gewiesen, an alles, was sie
hätte haben können! Sie begriff den geheimen Zusammenhang nicht.
Warum war denn alles so? Warum?
    Das Städtchen lag in tiefer Ruhe. Plötzlich erscholl ein
herzzerreißender Schrei. Bovary ward blaß und beinahe ohnmächtig.
Emma zuckte nervös mit den Augenbrauen. Dann aber war ihr nichts
mehr anzusehen.
    Der da, der war der Schuldige! Dieser Mensch ohne Intelligenz
und ohne Feingefühl! Da saß er, stumpfsinnig und ohne Verständnis
dafür, daß er nicht nur seinen Namen lächerlich und ehrlos gemacht
hatte, sondern den gemeinsamen Namen, also auch ihren Namen! Und
sie, sie hatte sich solche Mühe gegeben, ihn zu lieben! Hatte unter
Tränen bereut, daß sie ihm untreu geworden war!
    »Vielleicht war es ein Valgus?« rief Karl plötzlich laut aus.
Das war das Ergebnis seines Nachsinnens.
    Bei dem unerwarteten Schlag, den dieser Ausruf den Gedanken
Emmas versetzte – er fiel wie eine Bleikugel auf eine silberne
Platte – , hob sie erschrocken ihr Haupt. Was wollte er damit
sagen, fragte sie sich. Sie sahen einander stumm an, gleichsam
erstaunt, sich gegenseitig zu erblicken. Alle beide waren sie sich
seelisch himmelweit fern. Karl starrte sie an mit dem wirren Blick
eines Trunkenen und lauschte dabei, ohne sich zu regen, den
verhallenden Schreien des Amputierten. Der heulte in langgedehnten
Tönen, die ab und zu von grellem Gebrüll unterbrochen wurden. Alles
das klang wie das ferne Gejammer eines Tieres, das man schlachtet. Emma biß sich auf die blassen Lippen.
Ihre Finger spielten mit dem Blatt einer Blume, die sie zerpflückt
hatte, und ihre heißen Blicke trafen ihn wie Brandpfeile. Jetzt
reizte sie alles an ihm; sein Gesicht, sein Anzug, sein Schweigen,
seine ganze Erscheinung, ja seine Existenz. Wie über ein Verbrechen
empfand sie darob Reue, daß sie ihm so lange treu geblieben, und
was noch von Anhänglichkeit übrig war, ging jetzt in den lodernden
Flammen ihres Ingrimms auf. Mit wilder Schadenfreude genoß sie den
Siegesjubel über ihre gebrochene Ehe. Von neuem gedachte sie des
Geliebten und fühlte sich taumelnd zu ihm gezogen. Sein Bild
entzückte und verführte sie in Gedanken abermals. Sie gab ihm ihre
ganze Seele. Es war ihr, als sei Karl aus ihrem Leben
herausgerissen, für immer entfremdet, unmöglich geworden,
ausgetilgt. Als sei er gestorben, nachdem er vor ihren Augen den
Todeskampf gekämpft hatte. Vom Trottoir her drang das Geräusch von
Tritten herauf. Karl ging an das Fenster und sah durch die
niedergelassenen Jalousien den Doktor Canivet an den Hallen in der
vollen Sonne hingehen. Er wischte sich gerade die Stirn mit seinem
Taschentuche. Hinter ihm schritt Homais, die große rote Reisetasche
in der Hand. Beide steuerten auf die Apotheke zu.
    In einem Anfall von Mutlosigkeit und Liebesbedürfnis näherte
sich Karl seiner Frau:
    »Gib mir einen Kuß, Geliebte!«
    »Laß mich!« wehrte sie ab, ganz rot vor Zorn.
    »Was hast du denn? Was ist dir?« fragte er betroffen. »Sei doch
ruhig! Ärgere dich nicht! Du weißt ja, wie sehr ich dich liebe!
Komm!«
    »Weg!« rief sie mit verzerrtem Gesicht. Sie stürzte aus dem
Zimmer, wobei sie die Tür so heftig hinter sich zuschlug, daß das
Barometer von der Wand fiel und in Stücke ging.
    Karl sank in seinen Lehnstuhl. Erschrocken
sann er darüber nach, was sie wohl habe. Er bildete sich ein, sie
leide an einer Nervenkrankheit. Er fing an zu weinen im ahnenden
Vorgefühl von etwas Unheilvollem, Unfaßbarem.
    Als Rudolf an diesem Abend hinten in den Garten kam, fand er
seine Geliebte auf der obersten Stufe der kleinen Gartentreppe
sitzen und auf ihn warten.

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