Madame de Maintenon
Mignon, den kleinen Herzog von
Maine, noch immer ihr Liebling, noch immer vorwitzig, noch immer reizend, der nun jedoch an einem deformierten Bein litt, verdreht und verkürzt in den Krämpfen eines grausamen Fiebers. Wenn sie sich weigerte, nach Saint-Germain umzuziehen, würde sie ihn möglicherweise nie wieder sehen, und sie liebte den Jungen, mußte ihn unbedingt um sich haben, so als wäre er ihr eigener Sohn.
Unfähig zu gehen und unter ständigen Schmerzen leidend, war er in den Monaten, die seit seiner Erkrankung verstrichen waren, noch stärker von ihr abhängig geworden. Im Frühling 1673 hatte sie mit ihm – mit Bonnes Louise als zusätzlicher Belastung – eine anstrengende Reise von 200 Meilen nach Antwerpen unternommen, um dort einen Arzt zu konsultieren; es schien, als könne er dem Jungen helfen und sein Bein wieder gerade machen, damit er laufen konnte. Da es Louis-Auguste als Kind des Königs offiziell noch nicht gab, waren er und Françoise inkognito gereist, sie als die unbekannte Marquise de Surgerès und er als ihr Sohn.
Die Reise hatte nicht nur nichts gefruchtet, sondern alles noch schlimmer gemacht. Die Behandlung war verheerend gewesen. Mignon mußte mehrfach in eine Streckvorrichtung, »wie eine Folterbank
350 im Gefängnis«, und während an seinem Bein gezogen und gedreht wurde und seine Schreie ihr das Herz zerrissen, saß Françoise neben ihm und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Am Ende war sein kürzeres Bein länger als das andere geworden, und er konnte kaum aufrecht stehen, vom Laufen ganz zu schweigen. Obwohl es nicht ihre alleinige Entscheidung gewesen war, Mignon nach Antwerpen zu bringen, war sie doch für die Reise mit verantwortlich und wohl auch für deren schreckliches Ergebnis und das fortgesetzte Leid des Kindes. Schuldgefühle und vielleicht eine Entschlossenheit, ihn doch noch zu heilen, spielten also eine Rolle, als sie überlegte, was zu tun sei. Am Ende war es Père Gobelin, der sie überzeugte. Der Hof, sagte er, sei unter seiner glänzenden Oberfläche eine finstere
Lasterhöhle; die Kinder würden eine sehr viel größere Chance haben, als gute Christen aufzuwachsen, wenn es gelänge, den Einfluß ihrer sittlich verkommenen Mutter zu minimieren und seinen eigenen Einfluß – über Françoise – zu verstärken. Tatsächlich hatte Athénaïs kaum Einfluß auf die Kinder, da sie sich nie sonderlich für sie interessiert hatte. Andererseits war, falls Françoise ginge, nicht abzusehen, was für eine gedanken- oder lieblose Person als ihre neue Gouvernante angestellt würde. Außerdem, dachte Françoise, würden ihre Pflichten am Hof genau wie ihre Ehe mit Scarron wohl nicht von langer Dauer sein. Es war damals üblich, daß wohlgeborene Knaben bis zum Alter von sieben Jahren bei ihrer Gouvernante blieben, um dann einem männlichen Erzieher anvertraut zu werden, der für ihre schulische Bildung sorgte. Mignon war inzwischen fast vier. Noch drei kurze Jahre, und er würde ihrer Fürsorge entzogen werden, ob es Françoise gefiel oder nicht. Dann würde sein Bein aber möglicherweise geheilt sein, und sie hätte jedenfalls alles für ihn getan, was in ihrer Macht stand. Was die nichtköniglichen Kinder betraf, so konnte Charles' fünfjähriger Sohn Toscan aufs Land geschickt werden, und Bonnes Tochter Louise, ebenfalls fünf, mit ihr nach Saint-Germain gehen. Françoise sprach noch einmal mit Gobelin. Er drängte sie zu gehen, und Ende 1673 tat sie es.
* *
Saint-Germain war, obwohl die bevorzugte königliche Residenz und der offizielle Sitz der Regierung, nicht groß. Die zahlreichen Beamten und Diplomaten, die kamen, um den König zu sprechen, konnten dort nicht über Nacht beherbergt werden und mußten in ihren mit Samt ausgekleideten, aber ungefederten Kutschen täglich aus Paris anreisen. Es gab in Saint-Germain nicht einmal Platz für die Höflinge, die sich deshalb elegante Häuser in der Nähe bauten, und so war, als Françoise im Januar 1674 dort ankam, eine hübsche
neue Stadt neben dem Schloß in Entstehung begriffen. Sogar die Gemächer des Königs waren, obwohl erst vor kurzem umgestaltet, eingestandenermaßen klein. Nur Athénaïs hatte genügend Raum, eine wunderschöne Suite, die der berühmte François d'Orbay gestaltet hatte. Hier, in ihrem Boudoir, lag sie täglich zwei bis drei Stunden »nackt ausgestreckt
351 auf dem Bett, um sich mit Pomaden und Duftwässern massieren zu lassen«. Die Balkone, mit denen ihre Gemächer umgeben waren,
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