Madame de Maintenon
Gnade U . H . J . C .«, antwortete er. »Gott beläßt, wie der hl. Gregor sagt, den Gerechten normalerweise gewisse Unvollkommenheiten … damit sie nicht zu stolz werden. Wenn es wahr wäre, daß Sie nicht mit Gott sprechen, würden Sie am Gespräch mit den Menschen auf Erden mehr Gefallen finden. Daran, daß Sie die Kommunion aus Gehorsam nehmen, ist nichts auszusetzen.«
Und seine Briefe fuhren genau mit den kleinlichen, einengenden frommen Übungen fort, die Françoise schon immer so sinnlos gefunden hatte, weil sie von der ihnen zugrunde liegenden moralischen Ökonomie nicht überzeugt war. »Gestern abend, Madame
822 , wurde berichtet, daß Sie sehr an Zahnschmerzen leiden: Gelobt sei Gott! Er sucht diejenigen heim, die Er liebt. Schmerz ist Sein Geschenk für Seine geschätzten Kinder, und ich sehe hocherfreut, daß Sie zu ihnen gehören.«
»Sünden werden offenbar schlimmer
823 , wenn man von ihnen spricht«, seufzte Françoise. Und an diesem Punkt hätte sie sich mit einer oberflächlichen Frömmigkeit abfinden können, ohne wirkliches »Einssein mit Gott«, hätte nicht der Jesuit François Fénélon immer stärkeren Einfluß geltend gemacht, am Hof, in Saint-Cyr und in ihrem persönlichen Leben.
Fénélon stammte wie Françoise aus einer Familie des niederen Adels, die in Not geraten war: »Er war ein Mann von Stand
824 , der nichts besaß.« Die Kirche hatte ihm seinen Lebensunterhalt gewährt, der aber offenbar nicht ausreichte, um ihn zufriedenzustellen. Françoise hatte Fénélon im Haus des Herzogs und der Herzogin von Beauvillier kennengelernt, in dem sie zwei- bis dreimal in der Woche dinierte. Er war damals Ende Dreißig, ein nachdenklicher, ja visionärer Mann, der eine leidenschaftliche Spiritualität und einen kühnen irdischen Ehrgeiz hinter dem äußeren Bild vollendeter Liebenswürdigkeit verbarg, mit einem ausgeprägten Wunsch, allen zu gefallen, denen er begegnete, ob von hoher oder niederer Geburt. Zugleich besaß er eine gesunde Portion praktischer Vernunft und, wie er in seinem Traktat für die Unterweisung der acht Töchter der Beauvilliers gezeigt hatte, einen ausgezeichneten Instinkt für die Erziehung der Jugend. Kurz, er war trotz eines Altersunterschieds von sechzehn Jahren ein perfekter Seelenverwandter für Françoise. Der Herzog von Saint-Simon, in vielerlei Hinsicht ein Gegner Fénélons, beschrieb ihn dennoch mit den folgenden von Bewunderung geprägten Worten:
Er war ein hochgewachsener
825 , schlanker Mann, wohlgestaltet, mit einem blassen Teint und einer großen Nase und Augen voller Leidenschaft und Intelligenz. Seinem Ausdruck kam nichts gleich, was ich je gesehen habe, und wenn man es einmal gesehen hatte, konnte man es nicht mehr vergessen … Es war würdig und doch elegant, ernst, aber lebhaft. Man sah zugleich den Gelehrten, den Bischof und den grand seigneur , aber mehr als alles andere sah man in seinem Gesicht und in seiner ganzen Erscheinung Verfeinerung, Intelligenz, Wohlwollen, Diskretion und vor allem Adel. Es kostete Mühe, den Blick von ihm abzuwenden.
Im Jahr 1689 wurde der fromme Herzog von Beauvillier, am Hof bereits gut plaziert und sowohl von Françoise als auch
von Bossuet eifrig gefördert, zum Erzieher der drei Söhne des Dauphins ernannt, der kleinen Herzöge von Bourgogne, Anjou und Berry, die sieben, sechs beziehungsweise drei Jahre alt waren. Beauvillier hatte sogleich Fénélon aufgefordert, Erzieher des ältesten Jungen zu werden. Es war ein hochwichtiger Posten, denn der Herzog von Burgund war nächst seinem Vater der zweite Thronanwärter: Fénélon sollte zum Erzieher des künftigen Königs von Frankreich werden. Er sagte sofort zu und überließ es der Herzogin von Beauvillier, selbst mit ihren acht Mädchen zurechtzukommen, unterstützt von seinem inzwischen veröffentlichten Traktat.
Françoise war, auch wenn sie es nicht wagte, ihn zu ihrem Beichtvater zu machen, nach und nach dem Zauber des brillanten und geschickt agierenden Jesuiten verfallen, und er, eifrig auf die Förderung seiner Interessen am Hof bedacht, hatte sie keineswegs entmutigt. Auf dem Höhepunkt ihrer Sorgen um ihre demoiselles und dames hatte er ihr geschrieben und dabei seine, wie der Herzog von Saint-Simon es nannte, »kokette« Art des Umgangs mit einflußreichen Personen offenbart:
Leider wußte ich
826 , bevor ich die Messe las, nicht, daß Sie Françoise heißen … Ich habe gehört, daß Sie mit dem Gang der Dinge in Saint-Cyr unzufrieden sind. Gott
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