Madame de Maintenon
strotzten. Manchmal wurden die Mädchen morgens von den Musikanten des Königs geweckt, die unter den Fenstern des Schlafsaals lautstark aufspielten; aus Versailles wurde ein tanzender Affe herübergeschafft, um an ihren Übungen in Menuett und Quadrille teilzunehmen; der Rechenunterricht wurde dadurch belebt, daß ein Elefant die Lösungen einfacher Additionsaufgaben mit seinen riesigen, runzeligen Füßen klopfte. Auf die damals übliche Prügelstrafe hatte man verzichtet, wie Françoise erklärte: »Wir folgen hier der Maxime
813 , es erst einmal mit Freundlichkeit zu versuchen«, wobei sie einräumte, persönlich seien ihr Mädchen lieber, die »schelmisch, eigenwillig
814 , launisch, ja sogar ein bißchen trotzig« sind. Als das eigenartige Französisch ei
nes visitierenden polnischen Geistlichen während eines Gottesdienstes in der Kapelle Lachanfälle bei den Mädchen auslöste, wies Françoise den Gedanken an disziplinarische Maßnahmen von sich: »Wenn Sie hier jemanden bestrafen wollen, müssen Sie bei mir anfangen«, erklärte sie dem Seelsorger der Mädchen. »Ich habe lauter gelacht als sie alle.«
Die schlichten dames , die zumeist erst vor kurzem eine eher beschränkte Klosterschule absolviert hatten, gaben sich größte Mühe, ihrer Aufgabe gerecht zu werden, was die Mädchen natürlich ausnutzten. Einige der von ihr bevorzugten »ungezogeneren Mädchen« trieben es dann für Françoise wohl doch zu weit, denn als sie im Rahmen des Unterrichts in Hauswirtschaft Küchendienst hatten, unternahmen sie den Versuch, eine nicht sonderlich beliebte dame zu vergiften, was Françoise zu einer ausgesprochen brutalen Reaktion veranlaßte. Die Schuldigen wurden herausbefördert und, weil die Prügelstrafe nicht in Frage kam, »zur Hinrichtung verurteilt«, wofür man in großen Innenhof der Schule ein echtes Schafott errichtete.
Zu Hinrichtungen kam es natürlich nicht, aber wenn es Françoise gelang, den Mädchen einen solchen Schrecken einzujagen, daß sie sich anschließend brav verhielten, dann ließ sie sie und ihre Lehrerinnen zugleich in tiefer Ratlosigkeit zurück. »Wir brauchen Vergnügungen für die Mädchen«, pflegte sie die dames von der Haupttreppe herab zu belehren, vor der ihre Versammlungen stattfanden. »Das Theater ist gut für sie. Es vermittelt ihnen einen Hauch von Grazie, schmückt ihre Erinnerungen, erfüllt ihre Phantasie mit schönen Dingen.« Doch nur wenige Wochen später schlug sie einen völlig anderen Ton an: »Wenn sie auf den Plätzen, die Sie ihnen zuweisen, nicht still sitzen, müssen Sie sie anketten. Ich lasse Ketten machen, und dann werden sie an die Wand gekettet, gefesselt wie Hunde.« »Wir werden euch wie Sklaven behandeln«, brüllte sie die Mädchen an, »wie den Abschaum der Erde, wie die Galeerensklaven auf ihren
Gewaltmärschen.« »Lassen Sie sie in ihren Lumpen«, fauchte sie, den dames zugewandt. »Lassen Sie sie in ihren geflickten Schuhen, geben Sie ihnen einfache Speisen, gewöhnen Sie sie an allerlei Verdruß. Sie sind arm, und sie werden arm bleiben.«
Sollte eine der ungebildeten dames ein Quentchen angeborenen Scharfsinns besessen haben, muß sie aus diesen bösartigen Ausbrüchen eine tiefe Entmutigung herausgehört haben. Françoise war, scheinbar allmächtig innerhalb der Schule und von legendärem Einfluß am Hof, mit ihren Kräften am Ende. Der »Verdruß«, an den die Mädchen gewöhnt werden sollten, war in Wahrheit ihr eigener. Trotz des besten Willens, trotz sorgfältiger Planung, trotz der großen Menge Geld und einer unendlichen Detailgenauigkeit funktionierte Saint-Cyr nicht so, wie sie es gewollt hatte. Frustriert und ohne recht zu verstehen warum, ließ sie ihre Gefühle an den einzigen Menschen aus, die nicht in der Lage waren, sie zu bremsen oder sich gegen sie zu wehren. Françoise selbst war eigenwilliger und launischer als irgendeines ihrer »ungezogenen Mädchen«. Von jeher geneigt, etwas zu unternehmen, konnte sie unermüdlich arbeiten, wenn der Weg klar vor ihr lag. Ungelöste Fragen irritierten sie, und ihr Verhalten wurde dann unberechenbar und aggressiv.
»Die besten Pläne
815 können schiefgehen«, bemerkte Madame de La Fayette aus der sicheren Distanz ihres eleganten Hauses in Paris. »Jetzt, wo wir alle fromm sind, ist Saint-Cyr angeblich die Heimstatt aller Tugend und Frömmigkeit. Aber viel wird es nicht brauchen, um es zum Schauplatz grenzenloser Ausschweifung zu machen. Man muß sich das einmal vorstellen: da sind
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