Madame de Maintenon
Saint-Cyr her kannte.
An sich war gegen Godet des Marais nichts einzuwenden. Aus einer begüterten Familie stammend, ein Mittvierziger und Theologe an der Sorbonne, hatte er sein ganzes Geld verschiedenen wohltätigen Werken gespendet und lebte jetzt in strenger Enthaltsamkeit; er besaß nicht mehr als ein hartes Bett, einen Korbstuhl, einen Tisch, eine Ausgabe der Bibel, eine Karte von Jerusalem und, zur Beruhigung derer, die es mit der Frömmigkeit nicht ganz so genau nahmen, ein Klavichord, auf dem er allabendlich klimperte, um sich die Belastungen seines frommen Tageslaufes von der Seele zu spielen. Godet des Marais war ein ernster Mann und in seinen Ansichten eher beschränkt, so wie es auch Père Gobelin gewesen war, nur daß er im Unterschied zu diesem ein Mann von beträchtlicher Charakterstärke war. War Gobelin vor Françoises Willenskraft und ihrer bloßen Entschlossenheit, ihn zu ignorieren, zurückgewichen, so ließ Godet des Marais sich nicht unterkriegen, und damit bewirkte er eine eindeutige Veränderung in Françoises Verhalten und im Leben der Mädchen und der dames in Saint-Cyr.
Anfangs hatte er nur zögernd mitgemacht, weil er Françoises »großes Werk« als frivol und sogar sündig betrachtete. Welchen Zweck, fragte er, hat eine Schule für Mädchen, wenn sie kein Kloster war? Was für Frauen unterrichteten dort, wenn sie keine erklärten Nonnen waren? Was sollte all dieser gefährliche Unsinn mit Stücken und Theateraufführungen, und was hatte er mit dem Ziel zu tun, künftigen Ehefrauen und Müttern christliche Werte einzuflößen?
Françoise war so sehr von Selbstzweifeln befallen, daß sie sich überreden ließ. Der gerade und schmale Pfad, den Godet des Marais predigte, wurde rasch zu ihrem eigenen. Ihr
kurzes und schönes Experiment mit einer freieren, umfassenderen, fröhlicheren Erziehung für Mädchen endete in den frühen 1690er Jahren. »Wir müssen unser Institut
818 auf den Grundlagen von Demut und Einfachheit neu erbauen«, erklärte sie jetzt mit der ganzen Entschlossenheit der Neubekehrten. »Wir müssen unser hoheitsvolles, selbstgefälliges, stolzes und aufgeblasenenes Gebaren aufgeben. Wir müssen unser Vergnügen an lebhaften und raffinierten Dingen aufgeben, unsere Freiheit des Ausdrucks, unsere weltlichen Scherze und Tratschereien. Wir müssen genaugenommen das meiste von dem aufgeben, was wir bisher gemacht haben.« Godet des Marais führte persönliche Gespräche mit den dames , und er stellte jede einzelne vor die Wahl, entweder den Schleier zu nehmen und als Nonne lebenslang Armut, Keuschheit und Gehorsam zu geloben oder Saint-Cyr definitiv zu verlassen. Die meisten gingen und überließen es ihren bisherigen Schülerinnen, die Reihen der Lehrkräfte nach und nach aufzufüllen, und so nahmen denn auch in Ermangelung von Alternativen immer mehr von ihnen den Schleier. Knapp zwei Jahre genügten, um aus Françoises Saint-Cyr eine strenge, langweilige Klosterschule zu machen, an der die ganze »Trübsal und Kleinlichkeit
819 « herrschte, die sie so sehr hatte vermeiden wollen.
Wenn Françoise im Namen der Mädchen auf Vergnügungen verzichtete, so äußerte sich darin eigentlich nur ihr eigenes Bemühen, ein im christlichen Sinne besseres Leben zu führen – zumindest nach außen hin, aber bis zu einem gewissen Grad, wenn auch weniger erfolgreich, im Privatbereich. Ihr war bewußt, daß sie zumindest in diesem Punkt keine wirklichen Fortschritte machte, obwohl man sie weithin für ihre Wohltätigkeit und Frömmigkeit lobte. Es war, als sie vor über zehn Jahren in die Welt der Frommen eingetreten war, auch Betrug mit im Spiel gewesen: Sie wollte sich für den König unentbehrlich machen. Und wenngleich ihr Glaube ebenso ehrlich war wie ihr Wunsch, die eigene Seele zu
retten, so spürte sie doch, wenn sie ihr Gesicht Gott zuwandte, in ihrem Inneren keine wirkliche Spiritualität. Sie kam sich, mit einem Wort, wie eine Heuchlerin vor.
Ich nehme die Kommunion
820 nur aus Gehorsam … Ich erlebe kein Einssein mit Gott … Gebete langweilen mich … Ich möchte mich nicht dem Zwang frommer Übungen unterwerfen … Ich meditiere schlecht. Ich sehe, offen gesagt, keinen Grund, auf Erlösung zu hoffen.
Mit diesen schnörkellosen Sätzen teilte sie Père Godet des Marais das Wesentliche mit. Doch trotz seiner fünfundvierzig Jahre und des Theologiestudiums an der Sorbonne verstand Père Godet des Marais sie nicht. »Ihre Hoffnung auf Erlösung
821 ist gegründet auf die
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