Madame Lotti
wogenden Weizenfeldes, die absolute Stille, die uns manchmal, für Sekundenbruchteile, umgeben kann.
Mit Lotti hatte ich – als sie zur Lancierung des ersten Buches in die Schweiz kam – wunderbare solche Momente. Augenblicke, die uns zu Freundinnen machten. Als ich ihr beim Abschied sagte, ich würde bestimmt wieder kommen, irgendwann, meinte sie: «Irgendwann? Was ist mit dem Moment? Komm bald!»
Und so fliege ich heute – bereits zum dritten Mal – von Paris nach Abidjan. In Gedanken spaziere ich vom Ambulatorium «Centre Espoir Un», in welchem in ausrangierten Schiffscontainern Woche für Woche Hunderte von Menschen gegen Malaria, Tuberkulose, chronischen Durchfall und all die vielen anderen Krankheiten Afrikas behandelt werden, zum Sterbespital hinunter. Zum «Centre Espoir d’Eux», zum zweiten Zentrum der Hoffnung, bei dessen Namen Lotti sich ein Wortspiel erlaubte. Das französische «deux» für zwei bedeutet, wenn man es «d’Eux» schreibt, «für sie». Für sie, die Aidskranken.
Viele dieser Patienten können dort von Lotti und ihren Mitarbeitern, die Unermessliches leisten, aufgepäppelt werden und wieder nach Hause gehen. Es ist allerdings bloss eine Frage der Zeit, bis sie abermals vor dem Tor stehen. Völlig entkräftet, weil ihnen zu Hause das proteinreiche Essen fehlt, das sie bei Lotti bekommen.
Das Ambulatorium eröffnete Lotti Latrous am 1.Februar 1999 mit Unterstützung ihres Mannes Aziz, der ihr beim Aufbau eine unendlich grosse Hilfe war und der damals für Nestlé Abidjan die Direktorenstelle innehatte. Knappe vier Jahre später, am 2.September 2002, eröffnete Lotti Latrous das Sterbespital. Bald wird sie ihr drittes Projekt der Hoffnung, «Centre Espoir Trois», verwirklichen, das Mütter- und Kinderheim.
Eine Erfolgsstory sondergleichen, wenn man bedenkt, mit wie wenig Mitteln Lotti all dies aus dem Boden stampfte. Aber jede Geschichte hat zwei Seiten.
Niemand hatte bei der Eröffnung des Ambulatoriums im Februar 1999 geahnt, dass Aziz von seiner Firma exakt in diesem Monat Bescheid bekommen würde, dass man ihn in Kairo brauchte. Und niemand konnte auch nur ansatzweise ermessen, was dies für die Familie Latrous mit ihren drei Kindern bedeuten würde. Lotti, die in Abidjan anfänglich alles andere als glücklich gewesen war und immer davon geträumt, oft darum gebeten hatte, Nestlé möge Aziz zurück nach Kairo holen, wo er vor Abidjan gearbeitet hatte, Lotti erkannte schnell, dass es zu einer Zerreissprobe kommen würde. Dass sie sich schliesslich – nach langem, zähem Kampf mit sich selbst – dazu entschloss, nicht der Familie zu folgen, sondern im Slum von Adjouffou zu bleiben, war in erster Linie das Verdienst ihres Mannes. Er, Aziz Latrous, liebt seine Frau so sehr, dass er sie ziehen liess. Er war es, der die Kinder davon überzeugte, dass ihre Mutter nicht die Familie verlassen, sondern einer Berufung nachgehen wollte. Er war es, der die Familie zusammenhielt. Das erzählte mir Lotti. Als ich sie damals fragte: «Lotti, hättest du etwas dagegen, wenn ich Aziz in Kairo besuche, ihn näher kennen lernen und mir seine Seite der gemeinsamen Geschichte anhören würde?», war die Antwort: «Das entscheidet er allein – frag ihn.»
Ich lehne mich in meinem Sitz zurück und denke an das, was kommt: eine gute Woche Adjouffou, eine Woche mit Emanuel, dem Kleinen, dessen Mutter bei Lotti gestorben ist. Eine Woche mit Adelaide, der Breimutter, die Witwe ist und die mit dem Geld, das sie bei Lotti verdient, ihre sieben Kinder durchbringt. Eine Woche mit Monsieur Konaté, der weder schreiben noch lesen kann und Nacht für Nacht einen Job macht, der weit grössere Bewunderung verdient als der eines Hochschulabsolventen. Alle werde ich wieder sehen. Die Pfleger, die Putzmannschaft, die Kinder und Felix, den blinden Nigerianer.
Der heranrollende Aperitif-Trolley holt mich zurück. Zum Dosenbier gibts kleine Salzbretzeln und ein breites Grinsen vom Stewart. Schöne, heile Welt. In Afrika ist sie dies nicht. In Schwarzafrika leben zwei Drittel aller weltweit an Aids Infizierten, das sind gegen dreissig Millionen Menschen. Eine Zahl, die umso erschreckender ist, wenn man weiss, dass südlich der Sahara nur gerade knapp über zehn Prozent der Weltbevölkerung leben. Nach Schätzungen der Uno sterben in dieser Region täglich sechstausend Menschen an Aids.
«Meine Damen und Herren, es tut mir Leid...», die Durchsage des Kapitäns lässt mich rausschauen, der Kerosinstrahl
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