Madame Lotti
schwelenden Konflikte haben die Elfenbeinküste, die bis 1960 unter französischer Kolonialmacht gestanden hatte, den anderen Ländern Schwarzafrikas gleichgemacht.
In Schwarzafrika liegen dreissig der vierunddreissig am wenigsten entwickelten Länder. Unter ihnen rangiert die Elfenbeinküste 2004 auf Platz 163, hinter Nigeria, Tansania und Ruanda. Von den 175 untersuchten Ländern nimmt Sierra Leone den letzten Platz ein. 1999 lag die Elfenbeinküste noch auf Platz 154.
Diese Angaben macht das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. Der Bericht hält weiter fest: «Südlich der Sahara herrscht eine enorme Armut, es ist kein Fortschritt zu verzeichnen, sondern Stillstand und oft sogar eine Verschlimmerung der Lage. Es gibt kein Wirtschaftswachstum, die Hälfte der Einwohner lebt in extremer Armut, ein Drittel leidet Hunger, über fünfzehn Prozent der Kinder sterben vor Erreichen des fünften Lebensjahres. Neue Herausforderungen kommen aufgrund der grassierenden Aidsepidemie hinzu.»
Ich staune darüber, wie sehr der «arbre parasol», der «Sonnenschirmbaum», gewachsen ist, der in der Mitte des Hofes steht und später einmal – genau wie der beim Ambulatorium auch – für Schatten sorgen wird. Emanuel, der mich als Erster entdeckt hat, legt den Kopf schief, schaut dann Lotti, die neben ihm steht, fragend an.
«Ja», bestätigt sie, «das ist sie, geh nur.»
Und schon kommt er auf seinen dünnen Beinchen dahergewackelt, streckt mir die Arme entgegen, lässt sich von mir hochheben, klammert sich so an mich, dass ich beide Hände loslassen könnte, ohne dass er auch nur einen Millimeter nach unten rutschte. Emanuel! Der Kleine mit dem grossen Lachen wurde im Gefängnis geboren, wo er seine beiden ersten Lebensjahre verbrachte. Man hatte Noëlle, seine Mutter, an Stelle des Vaters eingekerkert, der nach einer Unterschlagung abgetaucht war. Als man ihn endlich verhaften konnte, entliess man Mutter und Kind. Im Juni letzten Jahres hing sein Leben an einem seidenen Faden. Einen Monat später, als seine Mutter Noëlle ihren Kampf gegen Aids verlor, drohte dieser Faden zu reissen. Ohne ihre Nähe, die Emanuel immer intensiv gesucht hatte, wurde der Kleine von Tag zu Tag apathischer. Lotti nahm ihn mit zu Dr.Henri Chenal, einem weissen Ivorer, der im Zentrum von Abidjan ein medizinisches Forschungszentrum aus dem Boden gestampft hat, das sich ausschliesslich um Aidskranke kümmert.
«Henri», sagte Lotti zum Arzt, der für sie längst ein Freund geworden ist, «verschreib ihm die Dreifachtherapie. Bitte!»
Dreifachtherapie, so wird die Medikation gegen Aids genannt, die es Aidskranken erlaubt, ein mehr oder weniger normales Leben zu führen. Seit ein paar Monaten wird diese Therapie von der Regierung der Elfenbeinküste Kindern bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag gratis abgegeben.
Dr. Chenal wehrte ab: «Gibst du Emanuel die Medikamente in diesem Zustand, kann es sein, dass sie ihn töten.»
«Ich weiss, dass er daran sterben könnte, ich weiss aber auch – und das genauso gut wie du –, dass er ohne die Medikamente mit aller Wahrscheinlichkeit auch stirbt. Wir haben eine fünfzigprozentige Chance. Ich nehme das Risiko in Kauf.»
Henri Chenal erwiderte nichts, wiegte nur seinen Kopf hin und her, kniff dann die Augen zusammen und brummte: «Du setzt deinen Kopf wohl immer durch?»
Und tat, was Lotti von ihm verlangte. Das Resultat sind kräftige Ärmchen, die sich um meinen Hals schlingen, ein leises Lachen, das mein Ohr erreicht, ein kleines Herz, das ich an meiner Brust schlagen spüre.
Nun kommen auch die anderen Kinder herbeigeeilt. Christ, dessen Mutter Chantal ich kennen lernte, bevor sie starb. Mohamed, der seine Eltern an Aids verloren hat und dessen Gang nicht mehr wie vor knapp einem Jahr an ein neugeborenes Lamm erinnert. Hinter ihm stampft zögernd – nur die Neugierde treibt ihn – ein weiteres kleines Kerlchen auf mich zu.
«Willy», stellt Lotti ihn vor, «oder Wilfred, wie du lieber möchtest. Und dort hinten ist Antoine, unser Jüngster.»
Lotti weist mit dem Kopf auf ein sieben Monate altes Baby, das auf einer Tagesdecke auf dem Bauch liegt. Neugierig dreht es den Kopf nach allen Seiten und erinnert mit seinen grossen Augen an Walt Disneys Bambi. Antoine, das wird mir Lotti später erzählen, hat kein Aids, sondern Eltern, die ihn nicht mehr wollen. Allerdings hat man ihn unter dem Vorwand hierher gebracht, die Mutter sei gestorben, was sich später als Lüge herausgestellt und Lotti
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