Madame Lotti
schiesst aus dem Flügel. Unglaublich, was für Mengen dort Platz haben! Eine halbe Stunde später landen wir im Pariser Flughafen «Charles de Gaulle».
Das Aufatmen in der Kabine ist ein einziger kollektiver Seufzer der Erleichterung. Man streckt sich, man lacht, man plappert drauflos. Als ich das Flugzeug verlassen habe, rufe ich Lotti an, die dem Piloten einen Persilschein ausstellt. Es sei tatsächlich so, Abidjan werde von einem grauenvollen Sandsturm heimgesucht. Alles, was nicht niet- und nagelfest sei, fliege ihr um die Ohren, und ich wisse ja, wie niet- und nagelfest der Slum gebaut sei. Sie sei froh, dass ich zurück in Paris und nicht im Anflug sei.
Ich gehe in das mir zugeteilte Hotel, das sich in Flughafennähe befindet. In der einen Hand die Reise-, in der anderen die Handtasche. Vor mir steht ein Ehepaar, das sich um fünf Koffer, vier inzwischen garantiert hungrige Kinder und – als wäre dies nicht schon genug – auch noch um einen jungen schwarzen Labrador kümmern muss. Der Welpe ist der Einzige, der die ganze Sache offensichtlich sehr aufregend findet, alles und jeden beschnuppert und auf seinen übergrossen Pfoten herumtappt, als hätte er zu tief ins Weinglas geguckt. Im ständigen Tauziehen mit seiner königsblauen Leine scheint er eine seiner Lieblingsbeschäftigungen zu sehen.
Im Hotelzimmer realisiere ich, wie sehr ich nach dem Take-off mit meinen Gedanken schon in Abidjan war. Es will mir fast nicht gelingen, meinen Kopf nach Paris zurückzuholen.
Samstag, 6. März
Es ist fünf Uhr morgens, in Adjouffou Zeit für den Muezzin, die Moslems des Slums zum Gebet aufzurufen. Es ist viel zu früh, um aufzustehen, aber die schrillen Geräusche des anbrechenden Tages in diesem seelenlosen Hotel im nasskalten Paris lassen mich keinen Schlaf mehr finden. Sie rufen die Sehnsucht nach der warmen Akustik des Slums wach. Um sieben bin ich unten im Frühstücksraum. Der Kaffee ist mindestens ebenso fürchterlich wie der gefriergetrocknete in Adjouffou, der dort – je zur Hälfte – in heissem Wasser und süsser Kondensmilch aufgelöst wird. Das Brot ist mindestens ebenso matschig wie meine Stimmung. Und die Butter steinhart.
Absurd! Gestern glaubte ich abzustürzen, und heute nerve ich mich schon wieder. Darüber, dass ich nicht dort bin, wo ich sein möchte. Darüber, dass der Kaffee nicht gut, die Butter steinhart und das Brot matschig ist.
Auf dem Flughafen heisst es warten, warten, warten. Als ich die Familie mit den vier Kindern, den fünf Koffern und dem jungen Labrador in das Gebäude treten sehe, staune ich kein bisschen über die erschöpften Gesichter von Mutter und Vater. Eine halbe Stunde später öffnet der Schalter, vier Stunden später boarden wir. Diesmal nicht eine Boeing 777-200, sondern einen bis auf den letzten Platz besetzten Jumbojet.
Der Flug verläuft ruhig. Als wir in Abidjan landen, wird ersichtlich, wer Passagier von gestern und wer einer von heute ist. Die von gestern klatschen, klopfen sich auf die Schultern oder umarmen sich. Die von heute tun dies alles nicht. Ein Satz füllt langsam, aber sicher, als würde ein Dominostein den nächsten umwerfen, die ganze Kabine: «On est chez nous!» Wir sind bei uns.
«Bei uns», das ist Afrika. «Bei uns», das ist Heimat. «Bei uns», das ist aber auch erneutes Schlangestehen bei den sich endlos in die Länge ziehenden Passformalitäten. «Bei uns», das ist ein einstündiges Warten auf die Koffer, weil alle drei Gepäckförderbänder ausgefallen sind. «Bei uns», das ist – da offenbar auch die Klimaanlage ihren Geist aufgegeben hat – tropisch feuchte Hitze. Nun, wenigstens gibt es «bei uns» Licht. Der Einzige, der die ganze Sache nach wie vor höchst interessant und geradezu belebend findet, ist der schwarze Labradorwelpe.
Erschöpft, aber sehr glücklich, endlich «bei uns» zu sein, trete ich durch die Tür in die Empfangshalle, sehe Lotti sofort. Weisser Kittel, blaue Jeans, braune Turnschuhe, blonde Haare, die ihr in die Stirn fallen. Wir lächeln, gehen aufeinander zu, und während der nächsten paar Schritte muss ich an eine kleine Episode denken, als Lotti für Signierungen und Interviews in der Schweiz war. Sie brauchte einen neuen Koffer. Wir gingen in ein Einkaufszentrum und dort mit der Rolltreppe in den ersten Stock. Oben angekommen, hielt uns eine Frau mit den Worten auf: «Ich kenne Sie, Sie sind Lotti, ‹La Blanche›, ich habe Ihr Buch gelesen.»
«Schön», entgegnete Lotti, «und da neben mir
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