Madame Zhou und der Fahrradfriseur
in der Ablage liegen.Auch der den Müll einsammelnde Mann trägt Anzug und weißes Hemd. Die Bedienerin hat die Haare straff zu einem Knoten gebunden. Die umherwieselnde Waggonchefin – sie muss nach der strengen Einlasszeremonie am Bahnhof keine Tickets kontrollieren – ist durch eine goldene Kordel an der Mütze zu erkennen. Die Kehrfrauen, die die Gänge hin und her laufen, arbeiten mit Besen und Schaufeln, die an hellblauen, langen Stangen befestigt sind. In den Taschen der Sitze stecken neben der Zugbeschreibung (»die Behindertentoilette mit Becken und Brille!«) auch Kotztüten.
Als der Zug anfährt, beginnt Richard Clayderman auf dem Klavier zu spielen. Der Buddha neben mir schläft sehr schnell ein. Sein Gesicht entspannt sich. Und nun hat er auch am Kinn einen kleinen Bauch. Hinter mir sitzt ein zweiter Ausländer im Waggon. Auch ihn hätte sich der Abt in seiner Vorsehung für mich schenken können. Er ist lang aufgeschossen und spindeldürr und redet sehr laut, sehr schrill und sehr agitatorisch. Seine Augen blicken nicht die Gesprächspartner an, sondern sind starr geradeaus gerichtet. Wie ein Messias erklärt er zwei Chinesen fast drei Stunden auf Englisch die Wirkungsweise von Management und Marketing am Beispiel von internationalen Autofirmen. Die beiden Chinesen können sich wohl nicht gegen den Redefluss wehren, befolgen seine »Controller«- und »Flash«-Befehle, und der dickere tippt im perfekten 10-Finger–System bedeutende Sätze wie »Marketing is allround in the World« in die Tastatur seines Laptops.
Irgendwann übertönt ein noch lauter singendes Kind den lauten Ausländer. Clayderman hat schon längst aufgegeben. Vor dem Fenster ist die Sonne im Smog der ersten großen Stadt, in der wir halten werden, nur noch wie durch Milchglas zu sehen. Kilometerweit stehen neue Pfeiler, auf denen Straßen oder Bahnen gebaut werden sollen. Ein Wald aus Tempelsäulen.
Nach der erst Chinesisch und dann in Englisch wiederholten Ansage »Yonglinying« erheben sich leider weder der Buddhaneben mir noch der »Wirtschaftsdoktor« hinter mir. Nur ein alter Mann, der während der Fahrt einen aus Ästen geflochtenen Korb, in dem zwei Hasen sitzen, auf dem Schoß hielt, verlässt den Platz vor mir. Ein kleiner Chinese, der auch durch seinen sehr hohen, blauen Hut nicht größer wird, steigt ein. Ich helfe ihm, den hölzernen Koffer im Gepäckfach zu verstauen. Clayderman beginnt wieder zu spielen. Ich glaube »Pour Adeline«. Und Steward und Müllsammler und Bedienerin und Waggonchefin und die Kehrfrauen laufen wieder und wieder die Gänge entlang. Durch die Zugheizung riecht man den beißenden Rauch der Kohleöfen in den Dörfern, durch die wir – so steht es auf der Anzeige – mit über 200 km/h rasen.
In der Toilette sind, obwohl wir keine Kurven, sondern immer nur geradeaus fahren, vorsichtshalber rechts und links von den Fußtritten, auf denen man über dem Loch hockt, zwei stabile, chromglänzende Haltebügel – ähnlich denen, die in Rallyewagen beim Überschlagen die Karosserie schützen sollen – angebracht.
Ich hocke und fühle mich, mich an den Bügeln festhaltend, wie in einem römischen Kampfwagen, mit dem ich durch China rase. Die Konzentration auf das Wesentlichste ist mir dabei allerdings unmöglich. Vielleicht hätte ich doch die mit Becken und Brille versehene Toilette für Behinderte benutzen sollen.
In Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, steigen die meisten Passagiere aus. Auch der Buddha neben mir, der Englisch sprechende Agitator und seine zwei Schüler hinter mir und der kleine Chinese mit dem blauen Hut vor mir. Der deutet zum Abschied eine Verbeugung an und überreicht mir mit zwei Händen in rote Aluminiumfolie eingeschweißten chinesischen grünen Tee.
Kuni schläft. Ich bin froh, dass sie uns begleitet. Wie sehr habe ich Anja Obst um ihre chinesischen Sprachkenntnisse beneidet. Sie kann sich überall mit jedem Chinesen unterhalten, alles fragen und alles erfahren. Herr Wu Ming verbessertmich. In der Fremde könne man zwar alles fragen, aber werde trotzdem nie alles erfahren und noch weniger begreifen. Er hat Nescafé geholt, setzt sich zu mir und blättert in meinem Buch mit Zitaten von Laotse und Konfuzius. Der große chinesische Lehrer Konfuzius sei in der Provinz Shandong geboren, sagt er und zitiert: Wo alle verurteilen, muss man prüfen, und wo alle loben auch.
»Konfuzius hat den Chinesen beibringen wollen, nach welchen Regeln sie miteinander leben sollten.
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