Madame Zhou und der Fahrradfriseur
beispielsweise einen Motor, ist das Benzin. Doch von dieser Lebensenergie hängt die Lebensdauer der Maschine nicht ab, denn das Benzin kann man jederzeit nachfüllen. Das Leben einer Maschine ist erst dann zu Ende, wenn sie selbst, also ihr Material, verschlissen ist. Dem Menschen dagegen wurde bei der Geburt das Chi, eine gewisse Menge Lebensenergie, mitgegeben. Wenn die verbraucht ist, kann man sie nicht wie Benzin nachfüllen. Dann ist der Mensch tot.«
Es käme also im Leben eines Menschen – in China gäbe es mehr als 20 000 Hundertjährige – immer darauf an, mit dem Chi, der geschenkten Lebensenergie, hauszuhalten und sie nicht zu vergeuden. »Stellt man eine Kerze – nehmen wir an, sie ist das Chi – in den Wind, wird sie nur unruhig flackern und sehr schnell herunterbrennen. In einem windstillen, harmonischen Raum dagegen wird sie ruhig und sehr lange brennen.«
Deshalb sollte man nach den Regeln der Traditionellen Chinesischen Medizin für Körper und Seele immer die größtmögliche Harmonie schaffen.
»Um zu erreichen, dass die Energie in dieser Harmonie unbehindert fließen kann, ist es notwendig, dass die Gegensätze, das Yin und das Yang, die sich gleichzeitig als Einheit bedingen, immer im Gleichgewicht bleiben. Kein Gutes ist ohne das Böse, kein Warmes ohne das Kalte möglich.«
Er versucht, mir das Yin und Yang an Beispielen deutlich zu machen. Das Yin verkörpert die Nacht, die Erde, die Finsternis, das Weibliche, den Mond, die Feuchtigkeit, die geraden Zahlen, das Spontane, das Wasser, die Rückseite, das Saure, das Nichtentscheiden, das Abwärts …
Das Yang dagegen verkörpert den Himmel, das Licht, das Männliche, die Sonne, das Trockene, die ungeraden Zahlen, das Geplante, das Feuer, die Vorderseite, das Süße, die Entschlusskraft, das Aufwärts …
Durch Massage und Akupunktur wird versucht, den Fluss der Energie im Körper zu verbessern und die Harmonie von Yin und Yang durch Heilkräuter, bewusstes Essen und Trinken und gymnastische Übungen zu befördern. Deshalb müsste ein Heiler auch die Yin-fördernden Lebensmittel von den Yang-fördernden Lebensmitteln unterscheiden können und beachten, dass die Menschen nur Produkte essen, die in ihrer Heimat wachsen. Dabei sollen Yin-Lebensmittel den Menschen Entspannung, Geduld und Zurückhaltung bringen. Yang-Lebensmittel dagegen Leistungsstärke, Dynamik, Willenskraft und Lebensfreude. Zu den Yin-Lebensmitteln zählen Gurken, Milch, Tee, Tomaten, Wein, Äpfel, Birnen, Mandarinen, Sahne … Und zu den Yang-Lebensmitteln Fisch, Knoblauch, Fleisch, Kardamon, Nüsse, Haferflocken … Hat ein Mensch zu wenig Yin, ist er unruhig und nervös, bei Yang-Mangel leidet er an Erschöpfung und geistiger Müdigkeit.
Um Liu Junbo und der sich redlich mühenden Kuni zu beweisen, dass ich das Prinzip verstanden habe, sage ich: »Demnach bräuchte ich nur viel Fleisch und Knoblauch zu essen und wäre willensstärker, dynamischer und weniger erschöpft.«
Der Heiler will sich die Enttäuschung über seine unverstandenen Erklärungsversuche bzw. meine Begriffsstutzigkeit nicht anmerken lassen und erläutert mir das Yin-und-Yang-Prinzip an einem »für Schriftsteller wahrscheinlich verständlicheren, allgemeinen, sozialen, gesellschaftlichen Problem«.
»Wenn das Yin sinkt, steigt das Yang. Und wenn das Yang sinkt, steigt das Yin. Wie auf einer Waage. Es ist nicht möglich, dass beide, also Tag und Nacht oder feucht und trocken oder positiv und negativ oder kalt und heiß, gleichzeitig sinken oder gleichzeitig steigen. Und das gilt auch für das Leben der Menschen. Zu guten, steigenden Zeiten weiß der Mensch, dass sie wieder sinken werden und danach die schlechten Zeiten kommen. Also legt er vorsorglich Nahrung und Geld zurück. Und in den schlechten Zeiten verliert er, weil er weiß, dass die guten Zeiten wieder aufsteigen werden, niemals die Hoffnung. Dieses Wissen ist für die Menschen lebenserhaltend.«
Um immer nach den Grundsätzen des Sinkens und des Steigens von Yin und Yang leben zu können, würden die Chinesen nicht nur die Lehren der Traditionellen Chinesischen Medizin befolgen, sondern sie auch durch dazugehörende Kung-Fu-Übungen wie Tai-Chi oder Qigong täglich unterstützen.
Ich sage ein wenig spöttisch: »Und im Park Bäume umarmen und rückwärtslaufen.«
Der Heiler nickt erfreut.
»Ja, hundert Meter rückwärtsgehen ist für die Gesundheit besser als tausend Meter vorwärts.«
Beim Vorwärtsgehen beansprucht der Mensch ein
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