Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Sein Prinzip: Die Unteren müssen den Oberen gehorchen! Also der Schwache dem Starken, der Kleine dem Mächtigen, der Schüler dem Meister, der Soldat dem Offizier, die Frau dem Mann, der Diener dem Beamten, der Beamte dem Kaiser …« Laotse, der Lehrer des Taoismus dagegen, wollte den Menschen vor allem in Harmonie mit der Natur, mit seinem Körper und mit den ihn umgebenden anderen Menschen sehen. Er sagt beispielsweise: Wahre Meisterschaft ist es, den Dingen des Lebens ihren Lauf zu lassen. Oder: Übe dich im Nichts-dagegen-Tun, und alles fügt sich zum Guten.«
Ich könnte den Abt zum Taoismus befragen, verspricht Herr Wu Ming.
»Er wird uns zusammen mit dem Heiler und dem Unternehmer am Bahnhof erwarten.«
Als wir in Tai’an aussteigen, ist es schon dunkel.
Einer der drei Männer, die Herr Wu Ming ungewöhnlich herzlich (selbstverständlich ohne die bei Chinesen gemiedene körperliche Umarmung) begrüßt, trägt zwar ein auffällig auberginefarbenes Sakko, aber mein Blick verweilt nicht bei ihm, sondern bei dem ganz in Schwarz mit einem kuttenähnlichen Kaftan gekleideten taoistischen Abt. Auf seinem Kopf sitzt eine flache, ungefähr 10 Zentimeter hohe, oben offene Kappe, aus deren Mitte ein dünnes, graues Haarschwänzchen heraushängt. Sein schütterer Bart erinnert mich in seiner zipfligen Form an den Bart von Guo Shoujing, der zwar kein Erfinder der Wälzlager, aber trotzdem ein großer Gelehrter war.
Der Abt
Ich reiche dem Abt mit einer kleinen Verbeugung eine Hand, die andere lege ich, weil ich nicht weiß, wie man einen taoistischen Abt begrüßt, ehrfürchtig auf meine linke Brusthälfte. Danach gebe ich den zwei Männern die Hand. Ich nehme an, dass der im auberginefarbenen mit Goldknöpfen verzierten Sakko der Unternehmer und der nur einen grauen Pullover über dem weißen Hemd tragende Mann der Doktor der Traditionellen Chinesischen Medizin ist.
Im Hotelrestaurant erfahre ich von Herrn Wu Ming, dass ich mich getäuscht habe. Der Heiler, Dr. Liu Junbo, trägt Aubergine mit Gold und der Unternehmer, Herr Xuan Jiaguo, den grauen Pullover. Beide sind wahrscheinlich noch keine 40 Jahre alt und haben ihr schwarzes Haar nach hinten gekämmt. Allerdings ist das des Unternehmers in der Mitte schon bis auf die Kopfhaut gelichtet. Aber er wirkt mit seinen großen, hinter der Brille neugierig schauenden Augen und der sehr geraden, die Brust herausstreckenden Haltung jugendlich und kräftig. DerHeiler, mit schmalem Mund, kleinen, oft zusammengekniffenen Augen, lässt die Schulter herabhängen. Und er lächelt listig wie einer, der sein geheimes Wissen nicht preisgeben will.
Herr Wu Ming erzählt, dass in dem geschichtsträchtigen historischen Nachbargebäude schon 17 Kaiser geschlafen haben. Und 6 von ihnen hätten den sich nebenan erhebenden heiligsten Berg Chinas, den 1545 Meter hohen Tai Shan, erklommen und auf seinem Gipfel Erde und Himmel Opfer gebracht.
Auch uns wird kaiserlich aufgetragen. Der Doktor der Traditionellen Chinesischen Medizin legt die besten Stücke eines in Reisweintrester marinierten Fisches, der Shandong-Spezialität Dongpingzaoyn, auf meinen Teller. Und Herr Wu Ming gießt mir Bier, das die Übrigen aus Likörbechern nippen, in ein großes Glas. Ich soll es, weil, wie der Unternehmer Xuan Jiaguo sagt, alle Deutschen Bier lieben, auf Wunsch des Abtes mit Ganbei – das Glas trocken machen –, also auf ex, leeren.
Und als ich, der ich kein Biertrinker bin, den halben Liter, ohne abzusetzen, ausgetrunken habe, lächelt der Abt und kneift seine kleinen Äuglein zu, als würde er meditieren.
Nachdem ich darauf bestanden habe, wie die andern mein Bier aus einem kleinen Glas zu trinken, und wir uns vier Mal mit Ganbei zugeprostet haben, sagt Herr Wu Ming plötzlich sehr laut: »Hier am Tisch sitzt China. Der westlich ausgerichtete Unternehmer. Der Abt der taoistischen Religion. Der Heiler der Traditionellen Chinesischen Medizin und ich selbst, der Kunstliebhaber, Ex-Diplomat und Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas.«
Ich frage vorsichtig: »Und die Wanderarbeiter, die Bauern, die Ayis, die Fahrradfriseure …?«
»Diese Leute verfügen nur über ein begrenztes Wissen«, erklärt mir Herr Wu Ming. Aber um zu verstehen, weshalb China in den letzten Monaten zum Leidwesen der neidvollen Amerikaner und Europäer zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufgestiegen ist, müsste ich nicht mit Wanderarbeitern undFahrradfriseuren, sondern mit neuen Unternehmern, alten Äbten,
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