Madame Zhou und der Fahrradfriseur
Baum so ein, dass man ihn aus der Stube sehen kann. Transport und Eingraben sind inklusive. Die kleine Tanne des Gärtners steht verschmäht am Zaun. Sie tut mir leid, denn Klaus beginnt sofort, den auserwählten Baum mit einer von der Wohnung aus einzuschaltenden Lichterkette zu schmücken.
Stolz öffne ich die Flasche chinesischen Rotweins, die ich gekaufthabeund die »Great Wall« heißt. Sie soll unseren Mauertag abschließen, aber der Wein schmeckt so sauer, dass wir ihn mitIKEA-Glühwein mischen. Dann zündet Klaus, damit die Manneln endlich rauchen können, die echten grünen Crottendorfer Räucherkerzen an. Er macht es auf eine mir unbekannte »arzgebirgische« Weise. Er hält eine Kerze zwischen Daumen und Zeigefinger, brennt sie an der Spitze an, und sobald sie glimmt, lässt er sie am ausgestreckten Arm in großer Geschwindigkeit so lange kreisen, bis die Glut sich tief genug in den Kegel hineingefressen hat. Dieses Anzündritual steht nur ihm zu. Und ich muss unwillkürlich an die Chinesen denken, die im Park und auf der Straße ihre Vögel, die in verdeckten Käfigen sitzen, spazieren tragen und sie dabei so heftig schaukeln und kreisen lassen, dass die Vögel vom Fliegen träumen. Die Käfige werden dann in die Bäume gehängt, das Tuch wird abgenommen, und es wird diskutiert, welcher Vogel am schönsten singt.
Für Monika, die Berlinerin, schiebt Klaus ein Video vom Barenboim-Konzert in der Berliner Waldbühne in den Recorder. Danach einen schwedischen »Adler«-Krimi, bei dem wir, dem Mauerausflug Tribut zollend, einschlafen. Zum Anstoßen um 24 Uhr sind wir wieder munter.
Der zweite Advent in Peking ist vorbei. Aber nun kommt der Nikolaus, und Klaus hat Geburtstag.
SPICKZETTEL (13)
Tina H., Berufswunsch: vielleicht Fotografie
Mir wünsche ich, dass ich später viel reisen kann und somit viel von der Welt sehe.
China wünsche ich, dass es all seine Probleme in den Griff bekommt. Dass noch mehr Chinesen die Chance auf eine gute Bildung haben und dass sie trotz der Masse, in der sie leben, immer individueller werden.
Von Deutschland vermisse ich in China eigentlich nichts, denn es geht mir hier sehr gut. Das Leben hier ist einfacher. In Deutschland würde ich von China vermissen: die freundlichen
Menschen, die Gelassenheit der Menschen, die Menschenmassen und die Fake-Märkte.
Ich würde keinen Chinesen heiraten, weil ich nicht möchte, dass die Chinesen durch uns Europäer so sehr verändert werden, dass sie keine Chinesen mehr sind. Sie sollen in China alles selbst bestimmen und alles selbst regeln. Das können sie aber nicht, wenn andere in ihrem Land oder in ihrem Leben bestimmend eingreifen.
Tillmann J., Berufswunsch: Kaufmann bei Siemens
Ich möchte später in verschiedenen Ländern leben, aber jeweils nur für drei bis fünf Jahre, damit ich viele Länder kennenlernen kann. In Deutschland gefällt mir besser, dass es dort schmackhaftere Schokolade gibt. Und keine Mücken. In China dagegen haben wir eine sehr gute Wohnung und ich eine sehr gute Schule.
Das Vogelnest
ODER:
Bai wen bu ru yi jian – Hundert Mal gelesen ist nicht so viel wie ein Mal gesehen
Am nächsten Morgen sind die Nikolausstiefel immer noch leer. Seinen beiden chinesischen Mitarbeitern im Büro sagt Klaus nichts und verbietet mir, dass ich seinen Geburtstag erwähne.
»Ein normaler Arbeitstag.«
Weil ich heute, »in enem Uffwasch«, wie Klaus sagt, den Platz des Himmlischen Friedens (Tian’anmen), den Kaiserpalast (Verbotene Stadt/Gugong) und schließlich auch noch das Olympia-Stadion besichtigen will, drückt er mir vorsorglich einen Peking-Baedeker mit Stadtplan in die Hand.
Bevor ich die Treppe zur nur 10 Minuten entfernten Metrostation Liangmaqiao hinuntersteige, überlege ich, dass es vielleicht besser ist, meine mit Wasser gefüllte Plasteflasche auszuschütten, denn auf sehr großen Piktogrammen wird am Eingang zur Metro angezeigt, was man nicht mitnehmen darf: giftige Chemikalien, feuergefährliche Flüssigkeiten, Bomben, Pistolen, Messer … Ich leere die Flaschen nicht. Am Ende der Treppe muss ich meinen Rucksack unter eine unkontrollierte Überwachungskamera legen. Billetts löst man am Automaten. Ich habe kein passendes Geld. Ein neben dem Automaten stehender Chinese zeigt mir, dass ich an die Kasse gehen soll. Dort sitzen zwei beschäftigungslose Billett-Verkäufer. Am Bahnsteig verstehe ich die chinesische Welt überhaupt nicht mehr. Denn obwohl der Zug schon eingefahren ist, stehen die Chinesen
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