Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
Vom Netzwerk:
noch sehr brav in einer Reihe hintereinander. Ich denke, dass die Türen im nächsten Moment aufgehen und staune, dass niemand drängelt. Doch die Türen öffnen sich nicht. Der Zug steht Minute um Minute, und die Chinesen warten Minute um Minute. Als ich näher komme, merke ich, dass der vermeintliche Zug nur eine detailgetreue Attrappe eines Zuges ist. Und als hinter dem Kulissenzug ein richtiger Zug einfährt, öffnen sich sowohl die Türen der Attrappe als auch millimetergenau dahinter die Türen des angekommenen Zuges. Und sofort beginnt ein unbarmherziges Drängeln.
    Am Metro-Eingang
    Ich komme nicht mehr mit. Aber danach stehe ich in der ersten Reihe vor der nun wieder geschlossenen Zugattrappe. Als der nächste Zug hält und sich die Türen wieder millimetergenau synchron öffnen, schaffe ich es, mich in den überfüllten Waggon zu drängeln. Eine junge Frau steht sofort auf und bietet mir ihren Platz an! Im Stillen verfluche ich Konfuzius. Hier kann sich kein Alter vor seinem Alter verstecken.
    An der Umsteigestation Quomao fahre ich mit einer alten attrappenlosen U-Bahn weiter. Und am Tian’anmen laufe ich, um den richtigen Ausgang zu finden, einer Gruppe Chinesen hinterher. Das hätte ich nicht gemusst, denn oben ist überall »Himmlischer Frieden«. Der in seiner Größe kaum überschaubare viereckige Platz wird von repräsentativen, im Stil der Sowjetzeit errichteten Bauten und den historischen Toren der Kaiserzeit gerahmt. Von weitem schon ist das Mao-Porträt zu sehen, das am Tor des »Himmlischen Friedens« über dem Mitteleingang hängt, der im Kaiserpalast nur dem Himmelssohn vorbehalten war.
    Einen Augenblick lang denke ich daran, dass Mao mit seinen gütig wirkenden väterlichen Augen vor 21 Jahren auch auf die Panzer hinabgeschaut hat, die in die protestierenden Studenten hineingefahren sind. Ich blicke zum Boden, auf dem Kinder goldene Drachen und bunte Comic-Figuren malen, und möchte der parteioffiziellen Agitation glauben, dass nicht hier das Blut geflossen ist, sondern die Soldaten erst geschossen haben, als die Demonstrierenden in die Seitenstraßen getrieben worden waren. Dort, wo Chinesen jetzt ohne Stäbchen bei McDonald’s Hamburger essen …
    Auf dem Platz lassen Väter mit ihren Kindern Drachen steigen. Eine Gruppe tibetanischer Mönche schart sich um einen Abt, der aus einem Buch vorliest. Kinder schwenken rote Papierfahnenmit dem chinesischen Staatswappen (Ährenkranz, Zahnrad, Fahnentuch und Tor des Himmlischen Friedens). Sie rennen um die Wette oder hüpfen über farbige Kreidekästchen. Wie Wespen umschwärmen Fotografen die Besucher und präsentieren ihnen auf großen Tafeln schon gemachte Porträts. Für 35 Yuan kann man sich ablichten lassen und den Beweis, dass man auf dem Tian’anmen-Platz gestanden hat, sofort mitnehmen. Die meisten Besucher jedoch knipsen sich gegenseitig, ohne dass sie einander kennen. Ich suche ein Hinweisschild für die Toilette. Finde keines und will deshalb weiter über den Platz des Himmlischen Friedens gehen, muss aber durch eine von Polizisten kontrollierte Sperre. Weil vor mir schon 15 Chinesen stehen, holt mich ein Uniformierter nach vorn und bedeutet mir, dass ich weitergehen soll. Man kontrolliert nur Chinesen. Liu Xiaobo wird in vier Tagen als Friedensnobelpreisträger in Oslo ausgezeichnet!
    Die Toiletten, die sich rechts und links neben dem über 50 Meter langen Tian’anmen-Tor befinden, sind auf Chinesisch und Englisch angezeigt. Vor der rechten verkauft ein Chinese gebratene Würstchen. Als ich endlich in dem vermeintlichen großen Toilettenraum stehe, habe ich mich wahrscheinlich geirrt. Auf Ramschtischen, in Vitrinen und Regalen liegen Ketten, goldene Buddhas, chinesische Duftkissen, Tassen und vergoldete stumpfe Säbel. An den Wänden hängen Amulette mit dem Porträt von Mao Zedong und Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens. Seitlich davon steht ein Fernsehapparat, vor dem mindestens 50 schwarz beschopfte Chinesen auf den Bildschirm starren. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle und an den auf den Schultern der Väter sitzenden Kindern vorbeiblicke, kann auch ich über den vielen Köpfen den Bildschirm erkennen. Und sehe darauf dasselbe wie davor: eine hin und her wogende Masse. Aber keine Gesichter und keine Haarschöpfe, sondern je nach Kamerastellung auf Zentimeter genau ausgerichtete, schräge Diagonalen oder gerade Reihenvon Mützen oder Helmen oder Beine oder vor der Brust präsentierten MPis von marschierenden

Weitere Kostenlose Bücher