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Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Madame Zhou und der Fahrradfriseur

Titel: Madame Zhou und der Fahrradfriseur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Landolf Scherzer
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Paradesoldaten. Das Video kostet 35 Yuan und zeigt den Aufmarsch der verschiedenen Streitkräfte der Chinesischen Volksbefreiungsarmee zum 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China.
    Ich will schon gehen, aber da wechseln vorn die Truppenteile, und uniformierte, junge, schlanke, gleich große Frauen in extrem kurzen Röcken strecken ihre wohlgeformten Beine waagerecht in die Höhe, so dass ihre Schenkel fast bis zum Po zu sehen sind. Mindestens so akkurat und fast so erotisch wie beim Friedrichstadtpalast-Ballett in Berlin. Ich muss unwillkürlich und wohl völlig unangebracht und unpatriotisch an das von den »MAD DOG« vorausgesagte Gelb-Fieber denken.
    Für meine revolutionären Freunde zu Hause kaufe ich zwei Ketten mit Mao-Porträts und will von der Verkäuferin wissen, was diese Frauen mit den »Parade-Schenkeln« in der Chinesischen Volksbefreiungsarmee machen. Ich deute Schießen, Putzen, Tanzen und Verbinden an. Sie schüttelt immer den Kopf. Aber den Eingang zum marmorgefliesten Toilettenraum kann sie mir zeigen. Er befindet sich türlos hinter dem Souvenirgeschäft.
    Mit den zwei Amuletts in der Hosentasche gehe ich dann über den Platz des Himmlischen Friedens bis zum Mausoleum, der Grabstätte von Mao Zedong. Es ist ein quaderförmiger, schmuckloser, von Säulen umrundeter Komplex. Überragt wird er von dem Denkmal der Helden des chinesischen Volkes. Dieser 38 Meter hohe Obelisk ist mit dicken Seilen im Quadrat abgesperrt, so dass ich die chinesischen Helden, die im Sockel verewigt sind, nur im Reiseführer nachlesen kann: der Beamte, der das Opium der Engländer verbrennen ließ, die aufständischen Bauern, der Sturz des Kaiserreiches 1911, der Aufstand 1927 in Nanchang, bei dem die Volksbefreiungsarmee gegründet wurde, der Partisanenkrieg gegen die Japaner, der lange Marsch von Mao …
    Rechts vom Denkmal, aber zugänglich, steht die Halle des Volkes. Sie ähnelt den säulenverzierten Bauten der Berliner Karl-Marx-Allee, ist nur größer und wahrscheinlich schneller errichtet worden. Das über 300 Meter lange Ensemble, in dessen Haupthalle 10 000 Menschen Platz haben, soll in nur einem Jahr aufgebaut worden sein.
    Die lange Schlange vor dem Mausoleum, die strengen Sicherheitskontrollen und die auf einer großen Leinwand angezeigten verbotenen Dinge, die man nicht mit in die Gruft nehmen darf – Fotoapparat, Handy, Getränke, Waffen –, sind nur ein Vorwand, dass ich mich, obwohl der Eintritt frei ist, nicht anstelle. Als Mitglied einer »Delegazija« wurde ich im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau so schnell an dem toten Lenin vorbeigeschleust, dass mir nur noch seine roten Bartstoppeln in Erinnerung blieben.
    Statt ins Mausoleum drängle ich mich unter die Chinesen, die in einem Pulk darauf warten, sich vor dem Mao-Porträt zu fotografieren. Das heißt, nicht direkt unter dem Bild, sondern aus der Entfernung von etwa 30 Metern. Sobald sie sich aufgestellt haben, treten die anderen höflich zur Seite, denn nur das Tor des Himmlischen Friedens, das Bild von Mao, der Wachsoldat und die zu Porträtierenden sollen auf dem Bild für immer festgehalten werden. Eheleute verewigen sich gegenseitig. Erst fotografiert der Mann die Frau und dann die Frau den Mann. Und dann drücken sie einem der Umstehenden ihre Kamera in die Hand und stellen sich nebeneinander. Ich nehme eine Stunde lang die sich Fotografierenden simultan mit auf. Über 100 mal fotografiere ich Mütter mit Kind auf dem Arm, Punker mit der roten Staatsfahne in der Hand, Eisenbahner mit Dienstmütze, Kriegsveteranen mit Orden, uigurische Würdenträger mit Gebetsketten, Großeltern mit Enkeln, junge Chinesinnen mit zum Victoryzeichen gespreizten Fingern, einen Krüppel mit Rollstuhl, Männer mit Schlips, Frauen im Hochzeitskleid …
    Manchmal holt mich ein Ehepaar oder eine junge Frau, umsich mit mir fotografieren zu lassen. Und drängelt dann solange, bis auch ich bereit bin, mich mit meinem Apparat zur Erinnerung an Mao fotografieren zu lassen. Ich versuche auf Englisch zu erfahren, weshalb sich alle vor Mao, durch dessen Politik Millionen Chinesen umgekommen sind, verewigen wollen.
    »This is the father of China.«
    Oder: »No Mao – no China.«
    Ein junger Mann in Nike-T-Shirt, Levi’s-Jeans, Adidas-Turnschuhen und mit für Chinesen ungewöhnlich dunkelblonden Haaren fragt mich, in zwar stockendem und undeutlichem, aber grammatikalisch richtig gesprochenem Deutsch: »Darf ich Ihnen mit Informationen behilflich sein, mein

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