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Madrapour - Merle, R: Madrapour

Madrapour - Merle, R: Madrapour

Titel: Madrapour - Merle, R: Madrapour Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Merle
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Vergangenheit. Ich denke daran, wie sehr er leiden und schwitzen wird, der Ärmste, wenn die Reihe an ihn kommt. Er gehört zu jenen robusten Leuten, die noch unterm Galgen protestieren, man dürfe sie nicht hängen, weil sie bei guter Gesundheit sind. Ich sehe ihn an. Ihm ist zu heiß. Er ist unruhig. Er schmort bereits. Er zieht sein Jackett und seine Weste aus, lockert den Kragen, kann sich aber nicht entschließen, die Krawatte aus gelber Seide anzutasten: der einzige Luxus, der ihm geblieben ist.
    Unter der Wirkung des Onirils oder der unterschwelligen Angst, die es nicht zu zerstreuen vermag, ist unter den Passagieren ein deutliches Sichgehenlassen zu beobachten. Auch Pacaud hat sein Jackett ausgezogen. Blavatski sitzt in Hemdsärmeln da und zeigt ungeniert seine malvenfarbenen Hosenträger. Madame Edmonde hat sich das Kleid aufgeknöpft. Sogar Caramans, mit der Hand vor den Augen meditierend, hat heimlich unter der Weste den ersten Knopf seiner Hose aufgemacht. Als einzige bleiben die
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korrekt. Zumindest nach außen. Denn Mrs. Boyd mit ihren untadeligen metallischen Locken auf ihrem runden kleinen Schädel, die Krokodilledertasche säuberlich auf den Knien, die runden Augen unverwandtgeradeaus gerichtet (die Leere in Betrachtung der Leere), erlaubt sich kleine Blähgeräusche, die zwar geruchlos sind, die sie aber nicht einmal durch Hüsteln zu übertönen versucht.
    Sie zu trösten, hat Mrs. Banister, die eine halbe Stunde nach Einnahme des Onirils erneut gesprächig geworden ist, zunächst ihre Ankunft im Vier-Sterne-Hotel von Madrapour heraufbeschworen. (Mit Ausnahme von Mrs. Boyd und Manzoni sind wir alle vergessen, sie kommt allein dort an.) Beim Kapitel über das erste warme Bad, bei dem sie ihren hübschen Körper reinigen wird, wechselt sie dann den Gesprächspartner, wendet sich Manzoni zu, ergreift seine Hände, taucht ihren Blick in seine Augen, beugt sich über ihn und verschlingt seine Lippen, nicht so keusch und verschämt wie die Stewardess, sondern mit der ruhigen Sicherheit einer großen Dame.
    Oh, ich tadle sie nicht! Soll sie sich beeilen! Ich habe nur einen einzigen Tag gehabt, den 15. November, um eine große Liebe zu erleben. In diesen vierundzwanzig Stunden, die man mir gegeben und die ihrem Ende zugehen, muß ich so viele Jahrzehnte zusammendrängen, wie ich nur vermag. Aber Stunden, Tage, Jahre: was ist das letztlich angesichts der Millionen Jahre, in denen wir nicht mehr sein werden – einer nach dem anderen an Land gesetzt, auch die Stewardess, die in ihrer Naivität glaubt, soviel mehr Zukunft vor sich zu haben als ich. Dabei habe ich eben bemerkt, daß sich um ihre Augen kleine Falten eingegraben haben, als wäre sie seit vorgestern um zehn Jahre älter geworden. Die Zeit drängt sich in doppeltem Sinne zusammen, scheint mir.
    Ich habe die Augen aufgeschlagen. Durch das Kabinenfenster sehe ich die Sonne sehr niedrig über dem Wolkenmeer stehen – über jenen Wolken, wo ich zu baden träumte. Im Grunde habe ich von dem Augenblick an, als ich den Fuß in dieses Flugzeug setzte, gewußt, daß es dahin kommen würde. Und ich habe eigentlich großes Glück gehabt. Dank der Stewardess habe ich mein eigenes Oniril abgesondert. Die Angst zu lieben hat mir die andere beinahe verborgen.
    Ich spüre die warmen Finger der Stewardess in meiner Hand. Um die Wahrheit zu sagen: Ich spüre sie jetzt ein bißchen weniger. Aber noch immer quillt dieselbe Zärtlichkeit in mir empor. Ich habe aufgehört, die Wechselseitigkeit als wichtig zu empfinden. Das betrifft die Stewardess, nicht mich. Und für sie ist esvielleicht ein wenig bedauerlich, daß sie wegen ihrer Ehrfurcht vor der Meinung des BODENS warten muß, bis ich nicht mehr bin, um die Wahrheit über ihre eigenen Gefühle zu erfahren.
    Ich werde jetzt die Augen schließen und sie aus Furcht, nichts mehr zu sehen, nicht mehr öffnen. Der schon getrübte Blick, den ich vorher noch der Stewardess zuwerfe, ist mein letzter. Aber ich habe mir ihre Züge fest eingeprägt. Ich werde ihr Gesicht mit mir nehmen wie eine wunderbare Zusammenfassung von der Schönheit der Welt.
    Ich weiß, wie sich alles abspielen wird. Da meine Augen schon geschlossen sind, werde ich die Leuchtschrift zu beiden Seiten des Vorhangs zur Pantry nicht sehen. Aber da ich noch hören kann, werde ich die Hektik der Passagiere vernehmen, wenn sie sich festschnallen, das drohende Pfeifen der Bremsen. Ich werde das Holpern auf der Landepiste wahrnehmen, denn ich spüre

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