Maechtig, mutig und genial
Kindersterblichkeitsraten gaben weiteren Anlass zur Besorgnis. Die Lateinamerikanerinnen, vor allem die Ärztinnen unter ihnen, hatten sich schon länger mit diesen Themen befasst, und so kam es, dass nicht nur Brasilien Frauen als Delegierte zur Konferenz der ILO nach Genf entsandte.
Für Bertha Lutz waren Arbeit und Bildung für Frauen mehr als eine »Notlösung« für die armen Familien, sie waren der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben. Gleich nach ihrer Rückkehr von der Konferenz in Genf gründete sie, zusammen mit Maria Lacerda de Moura, einer Lehrerin und Schriftstellerin aus Minas Gerais, die
Liga para a Emancipação Intelectual da Mulher
(dt.: Liga für die intellektuelle Emanzipation der Frauen). Bertha Lutz definierte das Ziel der Organisation so: »Ich schlage keine Assoziation von Suffragetten vor, die Fensterscheiben einschlagen, sondern eine von Brasilianern, die einsehen, dass Frauen nicht parasitär von ihrem Geschlecht leben sollten, indem sie von den animalischen Instinkten des Mannes profitieren, sondern dass sie nützlich sein sollen, sich selbst und ihre Kinder erziehen. Sie sollen in die Lage versetzt werden, die politischen Aufgaben zu übernehmen, die die Zukunft ihnen mit Sicherheit übertragen wird.« Daher setzte sie sich zunächst für eine verbesserte Sekundarstufenerziehung der Frauen ein.
Die internationale Konferenz hatte Bertha Lutz mit anderen Lateinamerikanerinnen in Kontakt gebracht, die ähnliche Ziele verfolgten, etwa die Uruguayerin Paulina Luisi oder die Argentinierin Alicia Moreau. So entstanden Netzwerke, die für die Feministinnen von enormer Wichtigkeit waren. Man traf sich auf verschiedenen Kongressen zum Schutz von arbeitenden Frauen und Kindern oder zur Lösung gesundheitlicher Fragen, aber auch im Rahmen der Panamerikanischen Union.Diese eigentlich auf politischen und ökonomischen Zielen basierende Organisation führte 1915/1916 erstmals eine wissenschaftliche Konferenz unter aktiver Beteiligung von Frauen in Washington durch. Diese Frauen gründeten anschließend eine eigene Vereinigung, aus der wenig später die Panamerikanische Frauenunion hervorging, die aus verschiedenen nationalen Komitees bestand. Die Tatsache, dass die US-amerikanischen Frauen 1920 das Wahlrecht erhielten, gab der Union erheblichen Aufwind.
Zusammen mit der US-amerikanischen
League of Women Voters
organisierte diese Union 1922 einen Kongress zum Wahlrecht in Baltimore, an dem mehr als 2000 Frauen aus Nord- und Südamerika teilnahmen, Bertha Lutz war eine von ihnen. Zur gegenseitigen Unterstützung schloss man sich zu einer
Pan-American Association for the Advancement of Women
zusammen, und zwar nicht auf Anregung der Nordamerikanerinnen, wie oft vermutet, sondern der Lateinamerikanerinnen. Zur Präsidentin der Vereinigung wurde die bekannte US-amerikanische Frauenrechtlerin Carrie Chapman Catt gewählt, Vizepräsidentin für Südamerika wurde Bertha Lutz, für Nordamerika Hermilia Galindo, eine Feministin aus Mexiko.
Das Jahr 1922 kann als entscheidende Wende in der brasilianischen Frauenbewegung gesehen werden. Bertha Lutz blieb nach der Konferenz in Baltimore drei Monate lang mit einem Stipendium in den USA und freundete sich mit Carrie Chapman an, die sie bei ihrer Rückkehr nach Brasilien dann auch begleitete. Die Tatsache, dass Bertha Lutz als Vizepräsidentin der Interamerikanischen Union aus Baltimore zurückkam, stärkte ihr Prestige enorm – und damit das der gesamten brasilianischen Frauenbewegung. In organisatorischen Fragen tatkräftig von der erfahrenen Mitstreiterin aus den USA unterstützt, gründete sie sogleich eine neue Vereinigung, die
Federação Brasileira pelo Progreso Feminino
(FBPF, dt.: Brasilianische Föderation für den weiblichen Fortschritt). Darüber hinaus organisierten die brasilianischen Frauen einen weiteren Frauenkongress,der ganz bewusst im Jahr der 100-Jahr-Feiern der brasilianischen Unabhängigkeit stattfand, denn die brasilianischen Politiker wollten im Jahr des
Centenario
ihre Modernität und Fortschrittlichkeit unter Beweis stellen, und dazu gehörte neuerdings auch die Beachtung der weiblichen Anliegen. Zu dem Kongress kamen neben brasilianischen Abgeordneten auch Delegierte aus Europa und den USA. Wie wichtig die prominente Unterstützung war, zeigt sich daran, dass im Rahmen dieses Kongresses der US-Botschafter in Brasilien ein Essen zu Ehren der Feministinnen gab. Anschließend wurde Carrie Chapman als erste Frau überhaupt vom
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