Mädchen im Schnee
würde kommen und gehen können, wie er wollte, ohne dass sie sich Sorgen machen musste. Sie kannte alle hier, und alle kannten sie. Und sie selbst würde Zeit finden, ihre Wunden zu heilen und neue Lebenslust zu entwickeln.
Wir sind auf dem Weg nach Hause, dachte sie. Nach Hause.
Heddas Zimmer war leer und dunkel, und zum ersten Mal seit langer Zeit war das Bett gemacht. Sogar der weiße Bettüberwurf lag da, glatt und schön. Es sieht genauso aus wie vorher, dachte Ernst. Vor der Verwandlung.
Wo war sie bloß? Als Ernst auch noch die alten Kuscheltiere dicht beieinander über dem Kopfkissen sitzen sah, begann er sich ernstlich Sorgen zu machen.
Er ging zu dem weißen Schreibtisch am Fenster. Sogar hier herrschte vorbildliche Ordnung. Langsam ließ er den Blick über das Bücherregal neben dem Schreibtisch gleiten.
»Glaubst du, dass sie einen heimlichen Freund hat, bei dem sie ist?«, fragte Gabriella, an den Türrahmen gelehnt.
Ernst zuckte mit den Schultern.
Im Laufe des Herbstes hatte sich ihr fröhliches, braves Pferdemädchen in einen garstigen und immer müden Teenager verwandelt. Sie schlief eigentlich die ganze Zeit. Am Wochenende kam sie manchmal, mit der Decke um den Leib gewickelt, gegen halb zwei Uhr nachmittags die Treppe heruntergetappt. Gabriellas säuerliche Spitzen über Langschläfer kümmerten sie nicht, wie sie ihre Eltern ohnehin kaum eines Blickes würdigte.
Ein paar Mal hatte er versucht, mit ihr zu reden, hatte sie gefragt, ob sie Probleme im Gymnasium habe, oder ob sie sich mit Stina gestritten habe, hatte aber nur Gemurmel und abwesende Blicke geerntet.
Und jetzt war sie verschwunden.
Da war das Schuljahrbuch. Vorsichtig zog er es aus dem Regal. Dann legte er es auf den Schreibtisch und begann zu blättern.
1 NB . Hedda stand ganz unten auf der rechten Seite in einer rosa karierten Kapuzenjacke und gehorsam lächelnd.
»Was hast du gesagt, wie sie hieß? Nora?«, fragte Ernst während er alle Namen unter den Fotos durchschaute.
»Ja.«
Gabriella hatte sich neben ihn gestellt.
»Hier ist keine Nora.«
»Was?«
Gabriella beugte sich über die aufgeschlagene Seite. Ernst las die Namen sicherheitshalber noch einmal, aber nein, in Heddas Klasse gab es keine Nora.
»Bist du sicher, dass sie Klassenkameradin und nicht Schulkameradin gesagt hat?«
»Ganz sicher.«
Trotz der Antwort blätterte Ernst das ganze Buch durch, fand aber keine Nora. Gabriella sank auf dem Bett zusammen und schlug die Hände vors Gesicht.
»Ich kenne sie nicht mehr«, schluchzte sie. »Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, wer meine eigene Tochter ist.«
Ernst setzte sich auf den Schreibtischstuhl und nahm ein perfekt eingebundenes Chemiebuch in die Hand. Immer wieder fuhr er mit dem Daumen über die eine Ecke, sodass die Seiten durchgeblättert wurden.
»Was sollen wir jetzt tun?«
Gabriella antwortete nicht. Stattdessen nahm sie Heddas altes Lieblingskaninchen Frasse vom Bett und begann, die abgenutzten Ohren zu streicheln.
Ernst erinnerte sich noch, was für einen Aufstand es gegeben hatte, als Frasses Nase abgefallen war. Gabriella und er hatten gemeinsam das ganze Haus durchsucht, waren auf dem Fußboden herumgekrochen, hatten unter Teppichen, Sofas und Betten gesucht, ohne die runde, schwarze Nase irgendwo finden zu können. Am Ende hatten sie die Situation einigermaßen retten können, indem sie ihm ein großes Pflaster aufgeklebt hatten.
»Ich fühle mich hier drin wie ein Eindringling«, sagte Gabriella, ließ Frasses Ohren los und sah ihn an. »Sie würde ausflippen, wenn sie uns hier sitzen sähe.«
»Wir müssen die Polizei anrufen«, sagte Ernst. »So kann es nicht weitergehen.«
Die Übelkeit durchfuhr sie in Wellen, schwappte durch den Magen, den Brustkorb und die Speiseröhre. Sie legte die Stirn an die kühle Autoscheibe und versuchte, die Kälte einzuatmen.
War sie hier schon einmal gewesen? Vielleicht. Die Häuser sahen alle gleich aus. Dreistöckige Mietshäuser in hellen Farben mit Reihen von Autos dazwischen. In fast allen Fenstern leuchteten Sterne. An den Wegrändern lagen weich und reinweiß hohe Schneewehen, die unter den Straßenlaternen glitzerten, als ob jemand sie mit winzigen Edelsteinen bestreut hätte.
Kosta fuhr an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. Als sie aus dem Auto kam, atmete sie die eiskalte Luft ein, bis es ganz hinten in der Nase wehtat. Kosta hielt sie, wie er es jetzt immer tat, an einem Ellenbogen fest und führte sie durch die
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