Mädchen im Schnee
sitzen. Dann stand sie auf, ging zum Fenster und schob die Jalousie ein wenig beiseite.
Die Sonne strahlte hell über dem Hof, und der Schnee lag immer noch sauber und weich da.
Wie spät es wohl war? Es musste mitten am Tag sein.
Sie hörte, wie die Tür da unten zuschlug, und dann sah sie den kleinen, alten Mann, über seinen Rollator gebeugt, ankommen und hinter den hohen Büschen am Parkplatz verschwinden.
Wie lange war Ana jetzt schon weg? Natürlich waren sie auch früher schon manchmal getrennt gewesen, eine Nacht oder zwei, aber nie so lange. In den ersten Tagen hatte die Sorge sie zerrissen, und sie hatte nicht schlafen können, ganz gleich, wie viel sie getrunken hatte. Jetzt fühlte sie sich mehr wie ausgeschaltet, als hätte jemand einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt.
Die Übelkeit kam ohne Vorwarnung. Sie wandte sich vom Fenster ab, rannte aus dem Zimmer und in die Toilette. Sie schaffte es gerade noch, den Klodeckel hochzuklappen, ehe ihr Mageninhalt in lang anhaltenden Krämpfen ausgepumpt wurde. Als nichts mehr kam, blieb sie, an die gekachelte Wand gelehnt, sitzen.
»Was machst du da drin?«
Sergej klopfte an die Tür.
Als sie nicht antwortete, kam er rein und hockte sich neben sie.
»Was machst du hier, du kleine Fotze?«
Als sie seinen Zigarettengeruch wahrnahm, überkam sie wieder die Übelkeit, und sie warf sich nach vorn über das Klo.
»Äh, igitt.«
Sergej stand auf und ging rückwärts zur Tür hinaus. Draußen hörte sie ihn lachen. Es war das böse Lachen, das immer dasselbe bedeutete.
Die Einsicht machte sie frieren.
Je weiter nach Norden sie kamen, desto höher türmten sich die Schneewehen auf, während das Thermometer auf dem Armaturenbrett immer weiter nach unten kroch. Minus zweiundzwanzig Grad.
»Wann ist das Mädchen verschwunden?«, fragte Christer Berglund.
»Vorgestern. Am Silvesterabend. Du, mach mal langsam hier. Diese Kurve ist eine komplette Fehlkonstruktion.«
Petra Wilander nickte in Richtung auf die Wegweiser, die in etwa hundert Meter Entfernung an der Y-Kreuzung standen. Gustafsfors nach links und Tyngsjö nach rechts.
»Ja, Mama«, grinste Christer, bremste demonstrativ und schlich dann durch die Kurve.
Dies war eine Prozedur, die sie in den Jahren ihrer Zusammenarbeit jedes Mal wiederholt hatten, wenn sie diese Kreuzung passierten, und das waren inzwischen über zehn Jahre.
»Also, diese Kurve ist wirklich falsch berechnet; was für ein Glück, dass du das vorher gesagt hast«, sagte Christer manuskriptgetreu.
»Ja, wer weiß, was sonst passiert wäre.«
»Am Silvesterabend«, fuhr Christer fort. »Ist es nicht ein bisschen spät, uns jetzt erst anzurufen?«
Der Wald öffnete sich, und auf beiden Seiten der Straße breiteten sich Äcker aus. Leichter Schnee trieb über den See hinter den Höfen. Kein Mensch war zu sehen.
»Das könnte man meinen. Da vorne ist es.«
Petra zeigte auf ein herrensitzähnliches rotes Gebäude auf der rechten Seite.
Christer schaltete herunter, fuhr auf den Hof und hielt vor dem Eingang.
Als sie aus dem Wagen stiegen, schlug ihnen die Kälte ins Gesicht. Die Äste der kahlen Birken am Wegesrand sahen aus, als wären sie aus Kunstglas.
Noch ehe sie klingeln konnten, wurde ihnen die Eingangstür geöffnet, und ein Mann in grünen Chinos, mit aufgeknöpftem Hemd und einem schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt sah heraus. Das musste der Vater sein.
»Kommen Sie herein, ehe Sie erfrieren«, sagte der Mann und gab ihnen die Hand. »Ernst Losjö. Ich habe Sie angerufen.«
Christer und Petra stellten sich nacheinander vor.
»Meine Frau ruht sich auf dem Sofa aus, deshalb setzen wir uns erst mal in die Küche.«
Sie folgten Ernst Losjö durch einen auf beiden Seiten von Glasschränken gesäumten Flur und nahmen an einem Tisch am Fenster Platz, dessen Vorderseite heruntergeklappt war. Ernst Losjö setzte sich ihnen gegenüber.
»Es geht um Ihre Tochter, nicht wahr?«, sagte Petra und holte Stift und Notizblock heraus. »Sie ist verschwunden?«
Der Mann begann zu weinen. Es war ein krampfhaftes Schluchzen. Um ihre Blicke zu vermeiden, senkte er den Kopf.
»Kein Problem«, sagte Petra und berührte mit der Hand leicht seine Schulter. »Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen.«
Nach ein paar Minuten hatte Ernst Losjö sich wieder fangen. Er ging zur Spüle und schnäuzte sich in ein Stück Küchenkrepp.
»Ja«, sagte er schließlich, »unsere Tochter Hedda hat uns erzählt, sie würde am Silvesterabend zusammen
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