Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Sheridan.
Dani atmete tief ein und versuchte, den Namen aus ihrem Kopf zu verbannen und sich auf die Frage zu konzentrieren, warum Rosie bei der Stiftung angerufen haben könnte. Sie wandte sich an Tifton. »Was hat eine ehemalige Prostituierte und jetzige Supermarktangestellte mit einer Nobelstiftung für Fotokunst zu tun?« Tifton sah sie begriffsstutzig an. »Rosies letzter Anruf ging an Russell Sanders.«
»Wer ist Russell Sanders?«
»Der Geschäftsführer der J. M. Sheridan Foundation.«
» Wir öffnen Augen und Herzen. Der Sheridan?«
Als gäbe es einen anderen. Trotz sämtlicher Verdrängungsbemühungen kamen die Erinnerungen hoch: an den Jungen von nebenan und seinen Aufstieg zum weltbekannten Fotojournalisten. Reich. Gut aussehend. Held und Vorbild für viele Außenseiter. Es hatte mal Zeiten gegeben, da hatte er Danis Held sein wollen.
Und dafür hatte sie ihm die Nase gebrochen.
Lieber Himmel, jetzt reiß dich gefälligst zusammen! Sie hatte die Erinnerungen an Mitch Sheridan schon vor Jahren aus ihrem Gedächtnis gestrichen, zusammen mit jeglichen Anzeichen von Bedauern. »Klar, genau der«, antwortete sie Tifton.
»Ganz schön glamouröser Umgang für eine Nutte.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht mehr anschaffen ging.« Und doch hatte er recht. Worin bestand die Verbindung zwischen Rosie McNamara und einem angesehenen Mitglied der Gesellschaft wie Russell Sanders?
»Sieht aus, als wären wir hier fertig«, stellte Tifton fest und deutete auf den sich nähernden Van der Bezirkspolizei, dem der Wagen des Gerichtsmediziners folgte. Die Kriminaltechniker waren bereits beim Einpacken. »Wir müssen Rosies Angehörige informieren.«
Trauer lastete schwer auf Danis Brust. Sie hatte Rosies Mutter und Schwester vor ein paar Jahren kennengelernt, als Rosie noch in Schwierigkeiten steckte und sie sehr unter der Entfremdung litten. Dani mochte sich kaum vorstellen, wie viel schlimmer es jetzt für sie sein musste. »Ich werde mit ihnen reden, sobald ich die Zustimmung der Gerichtsmedizin habe.«
»Reden wir inzwischen mit diesem Sanders. Er hat zuletzt mit Rosie gesprochen. Außerdem passt er nicht recht ins Bild.«
»In Ordnung.« Dani versuchte, keine Regung zu zeigen. Russell Sanders würde nicht mehr wissen, wer sie war. Und der Namensgeber der Stiftung, James Mitchell Sheridan, war – wie immer – irgendwo rund um den Globus unterwegs. Sie musste sich also nur darauf konzentrieren, Rosies Mörder aufzuspüren.
Dani verließ den Park. Als sie feststellte, dass sie versehentlich in die falsche Richtung losgefahren war, machte sie eine Kehrtwendung über die Blumenbeete auf dem Mittelstreifen. Tifton hinter ihr drückte kräftig auf die Hupe – er war ein Naturliebhaber –, aber sie beachtete ihn nicht und fuhr Richtung Franklin Avenue weiter. Unterdessen versuchte sie, sämtliche Gedanken an die Sheridan Foundation aus dem Kopf zu drängen und sich stattdessen mit Rosie zu befassen. Zwei Jahre zuvor hatte Dani sie wegen eines Falls verhört und das junge Mädchen schon nach zehn Sekunden ins Herz geschlossen. Die Kollegen hatten in ihr bloß irgendeine verkorkste Existenz gesehen, ein Beitrag für die Statistik. Dani hingegen hatte Rosie angemerkt, dass sie sich … verloren fühlte. Sie war erst sechzehn Jahre alt gewesen und hatte mit einem so erstaunten Gesichtsausdruck in die Welt geblickt, als begreife sie einfach nicht, wie es so schlimm hatte kommen können. Dani hatte einige Straßenhuren befragt und herausgefunden, dass Rosie ein paar Monate vorher von der Straße verschwunden war. Als sie wieder auftauchte, hatte sie sich verändert, und etwas hatte nicht mit ihr gestimmt. Dani hatte erfahren, dass ihr Zuhälter Ty Craig war.
Und von diesem Augenblick an war Rosie ihr zu einem persönlichen Anliegen geworden. Es hätte nicht so sein dürfen, aber so war es nun einmal. Ty Craig war ein geldgeiler Gauner der Oberschicht, dessen kriminelle Interessen – Edelnutten und Darlehen mit Wucherzinsen – von seinen legalen Unternehmungen – eine Filialkette von Schmuckgeschäften und Immobilien – gedeckt wurden. Er war so etwas wie der Mafiaboss von Lancaster County, geschützt durch großzügige Spenden an Politiker und sein wohltätiges Engagement. Man konnte ihm nichts anhängen, und es hieß, dass er auch ein oder zwei Polizisten schmierte.
Wie Danis Vater.
Scham überlief sie heiß, und sie stieß einen Fluch aus. Sie war damals nicht so dumm gewesen, Craig
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