Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Schon sauste der Helikopter wie eine gigantische Hornisse auf sie zu. Der Junge stolperte und wirbelte Sand auf. Mitch riss ihn auf die Füße. »Lauf weg!«, brüllte er, aber die Rotorblätter übertönten seine Stimme. Der Helikopter schwebte mittlerweile über ihnen in der Luft. Die Türen glitten auf, und dann war das Inferno da.
Bomben. Explosionen. Schüsse.
Mitch rannte weiter, über den Jungen gebückt, um dessen Kopf zu schützen, während neben ihnen der Sand in alle Richtungen aufstob. Noch fünfzig Meter, und sie waren in Sicherheit, vierzig. Weiterlauf–
Mit einem Mal riss es ihm die Beine fort. Der Junge schrie.
Mitch richtete sich halb auf und spuckte Sand aus. Nicht loslassen. Was auch geschieht, lass den Jungen nicht los. Doch seine Beine gaben erneut unter ihm nach. Schmerz schoss durch seine Glieder. Der Junge schrie ihm etwas zu und zog an seiner Hand.
Ich lass ihn los, dachte Mitch. Er kann es noch bis zum Lager schaffen. Doch verstärkten seine Finger ihren Griff, während Sand und heiße Blutstropfen wie Pfeilspitzen auf ihn niederprasselten. Mitch wollte losrobben, aber die Wüste unter ihm schien sich in Treibsand verwandelt zu haben. Er konnte die Beine nicht bewegen.
»Komm!«, rief der Junge, und Mitch wusste, dass er es tun musste. Ihn loslassen.
Er fluchte und lockerte seinen Griff. »Lauf weg!«, brüllte er, und der Junge rannte los. Durch den Staub sah Mitch, wie der Junge auf das Lager zujagte. Näher, noch näher.
Der Himmel wurde weiß.
»Neeein!«, schrie Mitch, als er das Rattern hörte. Der Junge wurde hochgeschleudert. Wie eine Stoffpuppe. Hilflos und mit schlaffen Gliedern. Alles war still, als er mit seinen Zöpfen, den Schleifenspangen und der Eistüte in der Hand einfach in die Luft geschleudert wurde. Was? Mitch schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn. Aber jetzt war es nicht mehr der Junge, sondern Mitchs kleine Schwester, die sich von ihm losgerissen hatte und auf die Straße gelaufen war. Nicht loslassen! Aber das hatte er getan. Mitch schrie, weil die Kampfgeräusche lauter wurden. Von oben fing es aus dem Helikopter an zu piepsen wie aus einem Müllwagen, der rückwärtsfuhr. Pliep-pliep …
Mitch fuhr mit weit aufgerissenen Augen hoch. Sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb.
Wieder dieser Traum. Er fluchte und wischte beim Klang seiner Stimme die Nachwirkungen des Alptraums beiseite. Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und stellte fest, dass er schwitzte. Sein Atem ging stoßweise. Verdammt noch mal, er hatte geglaubt, die Ereignisse im Lager längst überwunden und den tragischen Tod seiner Schwester vor zwei Jahrzehnten verarbeitet zu haben. Außerdem war er nicht mehr im Irak. Er befand sich in der Schweiz – und das schon seit sechs Monaten. Zwei davon hatte er in der Klinik gelegen und um sein Leben gekämpft. Anschließend hatte er in der Reha wieder laufen lernen müssen und war schließlich in diesen gemütlich eingerichteten Bungalow mit den modernsten Therapiegeräten und einem atemberaubenden Ausblick auf die Alpen gezogen. Das waren eben die Vorteile des Wohlstands. Hier gab es weder Kampfhubschrauber noch Bomben oder Fotografien eines Jungen, den er nicht hatte retten können. Hier störte nur das unaufhörliche Piepsen von dem Nachttischchen, das einen halben Meter neben seinem Bett stand.
Das Satellitentelefon.
Er streckte den Arm danach aus. Es gab nur einen Menschen, der ihn hier anrufen würde: Russell Sanders. Verdammt.
Mitch nahm den Anruf grunzend entgegen.
»Mitch, bist du es? Kannst du mich hören?«
Er schaltete die Lampe an und neigte den Kopf dem Apparat entgegen, der die Größe eines Ziegelsteins hatte. Wie die Walkie-Talkies, mit denen sein Bruder und er als Kinder gespielt hatten. Sie waren durch das Netz von Abwasserrohren unter dem Sedalia Park gekrochen und hatten beim Herausklettern aus einem der vielen Gullys am Seeufer aufpassen müssen, nicht in Gänsescheiße zu treten. Damals war die Kommunikation nur auf eine Entfernung von zirka fünfzig Metern möglich gewesen, während sie sich nun über den halben Globus erstreckte. Mitch räusperte sich. »Ich kann dich hören.«
»Lieber Himmel, ich hatte schon befürchtet, du würdest nicht drangehen.«
»Ich komme nicht nach Hause, Russ. Lass mich in Ruhe. Ich habe dir gesagt, dass ich mit dem Thema fertig bin.«
»Das hast du bestimmt nicht so gemeint. Du musst die Fotos deinem Publikum zeigen, die Hintergründe aufdecken. Das brauchst du doch
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