Mädchen und der Leibarzt
meinst du doch nicht ernst!«
»Oh doch, und wenn du mich dafür umbringst! Es ist die Wahrheit. Du benutzt mich, du benutzt jeden! Sonst bist du zu nichts in der Lage! Du bist ein elender Versager!«
Kaum hatte sie ausgesprochen, holte Friedemar mit der flachen Hand aus und schlug ihr ins Gesicht. Helena fasste sich an die brennende Wange. Dabei bemerkte sie, dass Friedemar sie nicht mehr festhielt. Offensichtlich war er über seine eigene Tat vollkommen entsetzt. Er starrte seine Hand an, als würde sie nicht ihm gehören.
Helena nutzte die Gunst des Augenblicks, sprang auf und rannte durch das dunkle Zimmer zur Türe, verfolgt von Friedemars unerbittlichem Schrei: »Helena! Komm sofort zurück!«
Mit aller Kraft schlug sie die Türe hinter sich zu und lief wie von Sinnen durch den pechschwarzen Korridor. Ihre linke Wange pulsierte, und sie spürte noch immer den derben Griff um ihre Handgelenke. Blindlings rannte sie die
Treppe hinunter. Sie stolperte, fing sich gerade noch am Geländer, der Schmerz fuhr ihr in die Hand, sie rappelte sich auf und riss die Tür zum Stiftshof auf. Beinahe wäre sie mit Lukas zusammengeprallt.
»Helena! Gott sei Dank, da bist du ja!«
»Lukas, wie siehst du denn aus?«
Er war vollkommen aufgelöst, Schweißtropfen perlten ihm trotz der Kälte von der Stirn. »Schnell!«, keuchte er. »Die Fürstäbtissin schickt nach dir! Du musst eilends zum Stiftstor kommen. Sie braucht deine Hilfe!«
Helena entdeckte Aurelia am Rand der Auffahrt liegend, nur wenige Schritte vom Stiftstor entfernt. Ihr nasses helles Kleid hob sich gegen den dunklen Steinboden ab. Hastig kniete sie sich neben ihr nieder und hob die Schulter der zusammengekrümmt daliegenden Verletzten vorsichtig an. Aurelias Gesicht war blutüberströmt, ihr Kleid bis zur Brust rot verfärbt, und ihr linkes Bein stand unnatürlich vom Körper ab.
»Ich muss sie beatmen! Sie hat zu viel Blut verloren.«
Lukas kniete sich neben Helena nieder, um den Puls an Aurelias Hals zu fühlen. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. »Sie ist ihren Weg gegangen, Helena. Gemeinsam mit ihrem Kind.«
»Nein! Ich hätte ihr doch noch helfen können …«
»Sie wusste, dass ihr Kind die Syphilis nicht überleben würde«, erwiderte Lukas ruhig. »Und sie wollte nicht alleine auf Erden zurückbleiben. Sie hat sich wohl entschieden, Ihrem Dasein ein Ende zu setzen, und sich vor die Kutsche geworfen.«
Helena sank neben der Toten zusammen und nahm deren Hand in ihre. Es wollten Helena keine weiteren Worte über die Lippen kommen, zu sehr war sie zwischen Wut und Trauer hin- und hergerissen.
Lukas deutete Richtung Stift. »Siehst du das Licht dort hinten kommen? Das wird Borginino sein. Er wird uns helfen, die Leiche wegzutragen.«
Helena schloss der Toten die Augen und faltete ihr die Hände. Als sie wieder von Aurelia aufsah, war der Diener nicht mehr weit von ihnen entfernt. Er hob und senkte die Lampe und lief stolpernd auf sie zu. Er trug einen Umhang und … schien größer als sonst. Als ihr die Zweifel kamen, war es bereits zu spät.
»Aha, er ist es also! Du Hure!« Friedemar riss sie von den Knien hoch und zerrte sie an sich.
»Lass sie los!« Lukas ging auf ihn zu.
»Du willst dich mit mir anlegen? Versuch es bloß!« Friedemar wehrte Lukas’ Angriffsversuch mühelos ab, indem er ihm einen Schlag in die Magengrube versetzte. Der Chirurg sank keuchend zu Boden. So schnell wie der Kampf begonnen hatte, war er wieder vorbei.
»So, und du kommst jetzt mit.« Helena wich ihm aus und versuchte dabei, in Lukas’ Nähe zu gelangen, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden krümmte.
»Du wirst mir meinen Rang nicht streitig machen! Ich habe das Mittel gegen die Blattern entdeckt, verstanden? Du nicht und nicht der Leibarzt«, stellte Friedemar in scharfem Ton klar. »Somit bin ich der rechtmäßige Erfinder!«
»Lass mich in Ruhe, Friedemar.« Es gelang ihr nicht, die Furcht in ihrer Stimme zu verbergen, und die Hilflosigkeit wurde zu einem dicken Kloß in ihrem Hals.
»Du hast keine Wahl als mit mir mitzukommen. Du bist schuld daran, dass man sich daheim das Maul über mich zerreißt. Ich bin das Gespött der gesamten Stadt! Entweder ich kehre in Ruhm und Ehren und mit dir als Weib nach Hause zurück oder …«
»Scher dich doch zum Teufel!«, schrie Helena außer sich.
»Eine wahrlich kluge Entscheidung …« Aus dem Dunkeln war plötzlich schwer atmend der Leibarzt hinter ihnen aufgetaucht, und im nächsten Moment
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