Mädchen und der Leibarzt
vor mir?« Er betrachtete amüsiert den Abstand zwischen ihnen. »Das wäre töricht, denn du wirst mich zukünftig auf meinen Reisen an die Fürstenhöfe begleiten. Wir werden die Landesherren von dem Mittel gegen die Blattern überzeugen und alsbald ein Vermögen damit verdienen. Was hältst du von dieser Aussicht?«
»Nichts«, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Oh Helenchen, mein kleines Dummerchen. Wenn wir erst einmal reich sind, dann wirst du es schon zu genießen wissen. Wir könnten weite Reisen unternehmen, wir hätten unsere eigenen Diener und würden speisen wie die Fürsten.«
Helena starrte auf den Engel in ihrer Hand und überlegte fieberhaft. Wie könnte sie ihn von seinen Plänen abbringen, ohne ihn allzu sehr vor den Kopf zu stoßen? Wenn der Zorn mit ihm durchgehen würde, wäre sie in diesem abgelegenen Zimmer verloren, und niemand würde ihre Hilfeschreie
hören. Helena erschrak, als Friedemar plötzlich ihren Arm ergriff.
»Nun, was sagst du?«
»Ja, also … Vielleicht ist das hier nicht der richtige Ort, um sich über solche Pläne zu unterhalten.«
»Aber du hättest Interesse?«
»Ich müsste es mir überlegen.«
»Wenn du Interesse hast, so gibt es nichts zu überlegen. Wir werden morgen nach Wernigerode reiten und alle Vorkehrungen für unsere Reise treffen. Ich denke, wir sollten zuerst an den Hof des Fürsten von Braunschweig-Wolfenbüttel gehen …«
Wenn doch nur Lukas hier wäre! Oder Gregor. Wenn er doch nur eine Montgolfière vom Himmel schweben ließe, damit sie sich mit ihm in die Lüfte schwingen könnte, denn ihre Flügel waren genauso unbeweglich wie die des Engels, der in ihrer Hand ruhte.
»Helena, hörst du mir noch zu?«
»Gewiss.«
»Gut, so ist es also beschlossene Sache.«
Sie hatte ihm nicht zugehört, doch gleichgültig, was er beschlossen hatte, sie musste weg von ihm.
»Nun komm, wir haben noch viel zu tun, wenn wir morgen schon losreiten wollen.«
Wir … Das Wort aus Friedemars Mund schnürte ihr die Luft ab. Sie musste reagieren, bevor es zu spät war.
»Friedemar, hör mir jetzt bitte gut zu: Es … gibt … kein … Wir. Verstehst du? Wir werden gar nichts tun!«
Er schaute sie stirnrunzelnd an, als hätte sie in einer fremden Sprache gesprochen. Nur langsam schienen die Worte zu ihm vorzudringen.
»Hast du mich verstanden, Friedemar?«
»Ich glaube eher, Helena, dass dich meine Worte nicht erreicht haben. Wir sind einander versprochen, und daran hast du dich zu halten.«
Wie konnte sie auch nur einen Moment glauben, dass er auf ihre Bedürfnisse eingehen würde! »Friedemar, ich werde dich nicht heiraten! Ich habe andere Pläne.«
»So, so, Madame hat andere Pläne.« Seine Stimme bekam einen gefährlichen Unterton. »Und welche, wenn ich fragen darf? Es würde mich durchaus interessieren, warum du nicht an die Fürstenhöfe reisen willst.«
»Das habe ich vor, allerdings nicht mit dir.« Noch im selben Augenblick erkannte Helena, dass diese Antwort ein Fehler gewesen war. Friedemars Augen verengten sich zu Schlitzen.
»Mit wem dann? Sag es mir!«
»Nein!« Helena sprang auf, aber Friedemar griff mit einer schnellen Bewegung nach ihrem Handgelenk und umklammerte es schmerzhaft.
»Wer es ist, will ich wissen!« Friedemar riss sie zu sich herum. Dabei fiel Helena die kleine Engelsfigur aus der Hand. Mit einem dumpfen Knall zerplatzte sie auf dem Fußboden, dann war alles ruhig. Fassungslos starrte Helena auf die Bruchstücke, als könne sie dadurch alles rückgängig machen. Doch der Engel war in viele kleine Stücke zerborsten, und nur das Buch lag noch als Ganzes in dem Scherbenhaufen.
»Lass mich los!« schrie sie außer sich. Mit Aufwendung äußerster Kraft versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien.
»Du gehörst zu mir! Du bleibst an meiner Seite!« Friedemar
zerrte sie an sich. Sein Brustkorb bebte, und sein Atem berührte stoßweise ihr Gesicht.
Helena wand sich unter seinen aufdringlichen Berührungen, doch seine Lippen näherten sich unaufhaltsam ihrem Mund. Sie stemmte sich gegen ihn, versuchte zu entkommen, bis er den Druck um ihre Handgelenke derart verstärkte, dass sie aufgab. Er küsste sie brutal und voller Gier. Erbarmungslos drang seine Zunge zwischen ihre Lippen, und sein Speichel floss ihr in den Mund. Wehrlos ließ sie es über sich ergehen, bis er endlich keuchend von ihr abließ.
»Ich hasse dich!«, stieß Helena hervor. »Du widerlicher, dreckiger, stinkender Aasgeier!«
»Das
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