Mädchen und der Leibarzt
spürte sie einen kalten, harten Gegenstand; sie holte den steinernen Engel hervor und berührte vorsichtig seine Flügel, als könnten sie zerbrechen. »Er ist fort, nicht wahr?«, fragte sie. »Aber ich wollte ihm doch noch etwas sagen: Er hat es geschafft, er hat mir tatsächlich Flügel geschenkt. Wir haben ein Mittel gegen die Blatternseuche.« Helena holte tief Luft und schluckte die Tränen hinunter. »Danke, Gregor.«
Verschwommen nahm sie einige Weinflaschen wahr, die neben der schwach leuchtenden Öllampe am Boden standen. Hatte er etwa nur Wein zu trinken bekommen? Was
hatte sich Aurelia dabei gedacht? Helena griff nach einer der leeren Flaschen und las die Aufschrift. »Nein«, flüsterte sie und sank auf die Knie. »Das war zuviel des Guten.«
Sie streichelte über das geschonte Stroh unter dem Kopfkissen, als würde er noch immer dort liegen und sie anlächeln. Jeder Halm, an dem ihre Finger entlangfuhren, enthielt eine Erinnerung an ihn. Helena durchwanderte noch einmal die Zeit, die sie mit ihm im Sternenzimmer erlebt hatte, schöne und intensive Momente, und als das Licht der Öllampe immer schwächer wurde, tastete sie nach ihrem Ärmelknopf, riss ihn ab und barg ihn noch kurz in der Hand, bevor sie ihn unter das Kopfkissen legte. »Für dich, Gregor. Weil du mir fehlst.«
Sie erhob sich und gab der Weltkugel auf dem Studiertisch einen schwachen Stoß. »Was meinst du?«, flüsterte sie dem steinernen Engel zu. »Es geht ihm gut da oben, oder? Er hat doch immer davon geträumt, zu fliegen und sich die Erde von oben anzusehen.«
»Helena, bist du das?«, fragte da eine tiefe Stimme.
Ihr gefror das Blut in den Adern. Friedemar, das war eindeutig Friedemars Stimme. Und jetzt konnte sie auch seine Gestalt ausmachen. Sein Umhang verschmolz mit der Dunkelheit, nur sein blasses Gesicht war im Lichtschein vage zu erkennen, als er auf sie zukam. Sie kauerte sich auf dem Bett zusammen und wünschte sich ganz weit weg.
»Na, suchst du deinen Gregor? Der ist in einem Sarg auf dem Weg zurück nach Wien. Der Äskulap hat gesagt, dass du keinen Wert darauf legst, mich zu sehen. Stimmt das?«
Sie rührte sich nicht.
»Jetzt weiß ich jedenfalls, was du hier alles erreicht hast.
Ich gratuliere dir zu deinem Erfolg. Deine Familie wäre sicher sehr stolz auf dich.«
Ihre Finger krampften sich um den steinernen Engel.
»Die Seniorin Gräfin Maria hat mir geschrieben, dass dies dein Zimmer war und dass du dich hier sehr gerne aufgehalten hast. Sternenzimmer ist wirklich ein schöner Name für die Bibliothek.«
Briefe der Seniorin? In Helena arbeitete es.
»Es muss hier wie im Paradies für dich gewesen sein«, sprach Friedemar weiter. »Wenn das deine Großmutter gesehen hätte … Du denkst bestimmt viel an sie, schließlich hast du den Himmel in diesem Zimmer direkt über dir. Schade, dass wir nicht mehr Licht haben. Ich hätte mir die Sternbilder zu gern etwas genauer betrachtet.«
»Was willst du?«, presste Helena hervor.
»Ich wollte mich nur persönlich von den Dingen überzeugen, die mir die Seniorin in ihren seitenlangen Briefen berichtet hat. Aber ich muss sagen, ich bin sehr zufrieden mit ihr. Alles war sehr wahrheitsgetreu, und sie hat die Fäden recht gut zusammengehalten. Dafür konnte sie ihre Großnichte Sophie bis zur Niederkunft gut versorgt wissen. Die junge Gräfin wollte in ihrer Not einen ortsfremden Medicus aufsuchen, um den Leibarzt nicht in ihr kleines Geheimnis einweihen zu müssen und dieses Wissen über ihre Verfehlung kam mir gut zupass. Ich musste nur noch die hervorragenden Kontakte meines Vaters zu diesem Monsieur Dottore Tobler nutzen, und von seiner eigenen Ruhmversessenheit getrieben, hat er dich brav dazu angestachelt, dein kluges Köpfchen gewinnbringend einzusetzen. Und nun bin ich da, damit du dein Eheversprechen endlich einlösen kannst.«
Helena fuhr auf. »Woher wusstest du, dass ich im Stift bin?«
»Die Geschichte einer armen jungen Frau, die der Fürstäbtissin zu Quedlinburg das Leben gerettet hat, verbreitete sich wie ein Lauffeuer über die Dörfer. Da musste ich nicht lange suchen. Und nun habe ich meinen Schatz ja wiedergefunden. «
»Komm mir nur nicht zu nahe!«
»Wir sind immerhin noch verlobt, Helena. Vergiss das nicht.« Friedemar ließ sich dicht neben ihr auf dem Bett nieder und schaute sie von oben herab an. »Du wirst morgen mit mir nach Hause reiten.«
Helena geriet in Panik und rückte von ihm ab. »Nein, Friedemar.«
»Hast du etwa Angst
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