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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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schlug Aurelia entgegen, als sie den Stiftshof betrat. Schneeflocken tanzten vom Himmel und wirbelten durch die Luft. Der Boden knirschte unter ihren Füßen, als sie an der Stiftskirche vorbeiging. Das Innere war hell erleuchtet,
und ein fröhliches Stimmengewirr drang durch das Kirchenportal nach außen. Der Mond hing als milchig leuchtende Sichel über dem Stift, dösende Pferde warteten geduldig, nur hier und da erklang ein Schnauben, als Aurelia leise über den Hof bis zur Stiftsmauer ging. Sie fröstelte und zog den Fellkragen ihres Umhangs enger um ihren zitternden Körper. Niemand war zu sehen, keiner würde sie aufhalten. Sie war allein – so allein wie schon ihr ganzes Leben.
    Aurelia spürte den eiskalten Stein unter ihren Händen, als sie sich über die Stiftsmauer beugte. Die Dunkelheit verbarg die wahre Tiefe, doch sie wusste, es würde genügen. Bei dem Gedanken daran überkam sie ein wohliger Schauer. Frieden finden, nie mehr das Gefühl empfinden zu müssen, auf dieser Welt unerwünscht zu sein. Sie schaute ein letztes Mal in den Himmel hinauf, sah Gregor vor sich und hoffte, dass er erahnen konnte, wie dankbar sie ihm für die schönen gemeinsamen Stunden war. Als er in den Krieg gezogen war, hatte sie nicht mehr an ihr gemeinsames Glück geglaubt, stattdessen das Kleinod ihrer Liebe an einen anderen verschenkt. Aus purem Leichtsinn, mochten Außenstehende urteilen – aus reiner Not heraus, auf der Suche nach Geborgenheit lautete ihre Erklärung, ihre Bitte um Verzeihung, die niemand hören wollte.
    Kälte kroch durch ihre dünnen Schuhsohlen. Bald würde sie ihre Füße nicht mehr spüren – gar nichts mehr spüren. Sie lehnte sich weit über die Mauer und zwang sich dabei in eine unnatürliche Haltung, um den Rock ihres weißen Kleides möglichst nicht zu beschmutzen, obwohl das nun keine Rolle mehr spielte. Ihr Bauch streifte an dem harten Stein entlang, und plötzlich schrak sie zurück. Es war, als
hätte sie jemand wachgerüttelt. Nachdenklich richtete sie sich auf.
    Sie war nicht allein, sie würde nie mehr allein sein. Dieses kleine Wesen in ihr sollte ihre Liebe spüren dürfen und niemals das Gefühl haben, unerwünscht zu sein. Auch wenn die Welt es als einen Bastard ansehen würde und sie sich lange Zeit verstecken musste – sie wollte es versuchen, sie beide durchzubringen. Noch einmal schaute sie zum Himmel hinauf, um nachzudenken. Aber ihr Herz sagte ihr, dass es die richtige Entscheidung war. Sie schwor sich, den Überlebenskampf aufzunehmen, auch wenn sie als sündiges Weib nicht auf den Herrgott zählen konnte – vielleicht fand sie irgendwo verständnisvolle Menschen, die ihr Unterschlupf gewährten.
    Ohne Licht und nur mit den Kleidern, die sie am Leib trug, ging sie die Kutschenauffahrt hinunter, dem Unbekannten entgegen. Auf den schneeglatten Pflastersteinen rutschte sie aus, knickte um, doch sie setzte tapfer einen Schritt vor den anderen.
    Die Kutsche mit dem königlichen Wappen bog viel zu schnell in den Schlund ein. Mit einem Sprung zur Seite versuchte sich Aurelia zu retten, sie hob noch die Hand, dann spürte sie einen harten Aufprall. Ihr Schrei ging im Dröhnen der Hufe und Knarren der Räder unter.

    Im Sternenzimmer war es dunkel und erbärmlich kalt. Mit zitternden Fingern entzündete Helena eine Öllampe und tastete sich im spärlichen Licht an den Regalen entlang. Draußen hörte sie eine Kutsche aus strenger Fahrt im Innenhof
ankommen, Stimmen, dann wurde der Wagenschlag nach geraumer Zeit wieder geschlossen, und kurz darauf war es wieder still.
    Das Geräusch ihrer Schritte irrte durch den verlassenen Raum. Es roch nach Urin und Syphilis, beißend und faulig. Nichts zeugte mehr von der Atmosphäre vergangener Tage, selbst aus den Büchern war der Ledergeruch gewichen. Nur die Marmorbüsten standen noch als stumme Zeugen auf ihren Podesten, die weißen Gesichter spielten mit den Schatten und schienen ihr seltsame Blicke zuzuwerfen.
    »Gregor?« Helena wusste, dass es dumm war, aber der Wunsch war einfach übermächtig. Gregor konnte nicht weg sein.
    Aber sein Bett war leer; das Laken auf dem dunkelgelb und braun verfärbten Stroh war zerwühlt. »Gregor?« Tränen traten ihr in die Augen. »Du bist nicht tot, oder?«
    Langsam kniete sie vor der Bettstatt nieder. Nun war er frei. Freier, als er es sich je erträumt hätte, auch wenn ihn der Generalpardon nicht mehr erreichen würde. Behutsam hob sie das Kopfkissen an und schob die Pergamentrolle darunter. Da

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