Maedchenauge
von übersteigertem Selbstwertgefühl, was wiederum auf ein unterdrücktes, verletztes Ego deuten lässt. Auf kindliche Minderwertigkeitsgefühle, würde ich sagen. Die nur dadurch abgetragen werden können, dass der erwachsene Mensch grausame Taten begeht. Die Opfer schmäht er, indem er sie als menschlichen Dreck abqualifiziert. Er versucht, seinen Taten so etwas wie Legitimität zu verleihen. Wozu auch die Selbstbezeichnung als Der Richter passt.«
»Was könnte die bedeuten?«
»Er geht davon aus, dass er gerecht handelt. Oder er will das vortäuschen. Jedenfalls maßt er sich die Autorität an, andere für ihre Taten zu bestrafen. Erkennen Sie den Zusammenhang zu dem, was ich vorhin gesagt habe, Frau Doktor? Die Opfer sind keine Zufallsbekanntschaften. Sie sind gezielt ausgewählt worden, weil sie für etwas Konkretes büßen sollten. Dieser selbsternannte Richter ist in Wahrheit kein Richter, sondern ein Rächer. Es geht ihm um etwas Persönliches. Er sucht Vergeltung. Wofür auch immer.«
Promegger atmete tief durch, wie nach einer körperlichen Anstrengung. Er winkte dem Kellner und ließ sich die Rechnung geben. Inzwischen überlegte Lily rasch.
»Ich habe vor kurzem einen Hinweis erhalten. Sie werden die These wahrscheinlich abwegig finden. Aber es gibt jemanden, der an eine Verbindung zwischen den Morden und dem Skandal um Pratorama glaubt.«
Dem sich unterwürfig verneigenden Kellner spendierte Promegger ein üppiges Trinkgeld. Danach schaute er Lily gelassen an. Was sie gesagt hatte, schien ihn keine Sekunde lang zu verblüffen. In aller Ruhe verstaute er seine Brille im Etui.
» Pratorama hat in Wien viel Staub aufgewirbelt und für starke Emotionen gesorgt«, sagte er. »Allerdings würde ich Ihnen empfehlen, nicht auf Offensichtliches zu setzen. Denken Sie um mehrere Ecken. Pratorama ist politisch, es geht um rationale Probleme. Die Morde hingegen haben stark emotionale Aspekte. Mein Gefühl ist, dass jemand persönliche Rechnungen begleichen will. Dieser Richter , der zugleich Henker ist, hat womöglich gar nichts mit Pratorama zu tun. Aber eventuell bestärkt ihn diese Affäre, in Wien aufzuräumen.«
Promegger lehnte sich vor, bis er Lily ganz nahe gekommen war. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann. Und ich habe auch politische Kontakte. Man hat mich in die Wiener Politik holen wollen … Es ist nicht dazu gekommen. Aber ich weiß, dass der näher rückende Wahlkampf einen unheilvollen Einfluss auf das Geschehen in Wien hat. Sie müssen vorsichtig sein, Frau Doktor Horn. Ihre Aufgabe ist politischer, als Sie vermuten. Es gibt Personen, die sich wünschen, dass in Wien Ruhe herrscht, damit die nächsten Wahlen ohne große Überraschungen über die Bühne gehen. Die Morde und Ihre Ermittlungen sorgen dagegen für Unruhe. Das gefällt manchen Leuten überhaupt nicht. Gegen die Morde können die nichts tun. Aber gegen Sie, Frau Doktor. Sehen Sie sich vor. Sie haben in ein Wespennest gestochen, ohne es zu ahnen. Solange das Nest nicht ausgeräuchert ist, haben Sie wenig Freunde. Dafür viele Feinde. Man wird nicht zögern, Ihnen Steine in den Weg zu legen. Halten Sie sich also an die Menschen, die Ihre Freunde sind. Und bringen Sie Ihre Arbeit erfolgreich hinter sich.«
Promegger lehnte sich wieder zurück. Und erweckte den Eindruck, das Treffen beenden zu wollen. Er richtete seine Fliege, während er mit seinem Blick das Kaffeehaus durchsuchte. Lily dagegen war unzufrieden. Promeggers letzte Bemerkungen waren zu allgemein gewesen, und viel zu kryptisch. Als hätte er das Interesse an der Sache schon wieder verloren.
»Ist das jetzt alles, was Sie mir sagen können?«, fragte sie hartnäckig.
»Für den Moment. Wenn es etwas gibt, bei dem Sie meine Hilfe benötigen … melden Sie sich bei mir.«
Promegger kramte eine Visitenkarte heraus und reichte sie Lily. »Ich kenne Ihre Karriere und bin überzeugt, dass Sie eine fähige Person sind. Theoretisch sollten Sie es schaffen, die Sache aufzuklären. Also tun Sie es, solange die Situation in Wien nicht völlig vom Wahlkampf vergiftet ist. Sonst werden die Mordfälle zu denen zählen, die nie gelöst werden.«
»Jemand hat sich mit mir verabredet und mir Hinweise gegeben. Dabei hat er so getan, als wäre er ein Insider.«
»Ein Insider ?«
»Oder ein Mitwisser. Kann ich so jemandem trauen?«, fragte Lily.
»Das kann einer von denen sein, die Ihnen helfen wollen. Es kann sich aber auch um einen Feind handeln. Untersuchen Sie, was er Ihnen
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