Maedchenauge
gewusst, ob der Inhalt des Briefs ernst zu nehmen ist oder … Außerdem gibt es da noch etwas, das Sie wissen müssen.«
Sie berichtete ihm von dem Treffen beim Theseustempel. Belonoz hörte ihr gelassen zu, ohne sichtbare Gefühlsregung. Ihrem Blick wich er allerdings aus und konzentrierte sich auf die Oberfläche seines Schreibtisches.
Als sie geendet hatte, war sein Mund schmal geworden.
Erst nach einer Weile schaute er sie wieder an.
»Und das hätten Sie mir nicht schon längst sagen können?«, fragte er. »Warum, Frau Doktor? Warum haben Sie das nicht getan?«
Lily spürte, dass sich Belonoz ausgegrenzt fühlte. Von der Frau, die ihm eine bessere Zusammenarbeit versprochen hatte.
Sie bereute, dass sie es nicht anders und vor allem besser angestellt hatte. Ihre Stimme wurde leiser, zerbrechlicher. »Ja, Sie haben recht. Mir fällt überhaupt nichts zu meiner Entschuldigung ein … Ob Sie mir abnehmen, dass ich mit mir selbst gekämpft habe, weiß ich nicht … Ich trage die Verantwortung für die Ermittlungen und … Dieser Fall ist größer, als ich ursprünglich angenommen habe. Viel größer, das zeigt sich von Tag zu Tag mehr. Und ich habe mich falsch verhalten. Weil ich unsicher war, wie ich … Können Sie das akzeptieren, Herr Major, oder …?«
Belonoz sah Lily genau an. »Wissen Sie, plötzlich wird mir eines bewusst. Ich habe eigentlich keine Lust, Sie irgendwie zurechtzuweisen. Und ich verstehe Sie. Man tut nicht immer das Richtige zum richtigen Zeitpunkt. Weil wir Menschen sind. Und jetzt sollten Sie mit Herrn Foltinek sprechen.«
Sie erwiderte seinen Blick lange. »Danke.«
Er schien sie loswerden zu wollen. »Fahren Sie zu Herrn Foltinek. Oder liegt noch etwas an?«
»Vorgestern hat mich ein Anruf erreicht, als ich schon geschlafen habe. Anonym. Ich möchte wissen, wer das war.«
»Kein Problem.«
Sie standen auf, er brachte sie zur Tür.
»Wie war der Termin mit Promegger?«
»Gut, dass Sie mich fragen. Er hat mich überrascht. Er war … anders als erwartet.«
»Menschen sind wie Häuser. Die Fassade sagt nichts darüber aus, was sich im Inneren abspielt.«
*
In der vergangenen Nacht hatte Berti Stotz kaum geschlafen. Dafür umso mehr gesoffen. Er fühlte sich müde und überdreht zugleich. Am liebsten wäre er sofort ins Bett gesprungen, aber sein rasender Puls verriet ihm, dass ihn dort keine Erholung erwarten würde.
Allein saß er in seinem Büro herum und wusste nicht, was er tun sollte. Er kannte diese Einsamkeit. Die Einsamkeit vieler Politiker.
Zwar hatte er täglich mit unzähligen Menschen zu tun. Doch lediglich, um mit ihnen Politik zu machen, Strategien auszuklügeln, Kampagnen zu entwerfen, die Opposition auszumanövrieren, Intrigen vorzubereiten. Persönliche Freunde hatte er hingegen keine mehr. Die letzten hatten sich schon vor Jahren verabschiedet. Oder er hatte sich von ihnen getrennt. Oder sie zumindest so lange vernachlässigt, bis die Freundschaften zerbröselt waren wie ein von Termiten zerfressenes Gemäuer.
Irgendwann in den letzten Jahren muss ich diese Menschen verloren haben, ohne dass es mir aufgefallen ist, dachte er.
Wie gerne hätte er jetzt mit jemandem gesprochen. Von Freund zu Freund. Doch er wusste nicht, wen er hätte anrufen sollen. Kein einziger Name kam ihm in den Sinn. Er brannte darauf, sich einem Menschen anzuvertrauen. So lange hatte er das nicht mehr getan. Er fühlte sich mit einem Mal wie eine Pflanze, die über Nacht vertrocknet war.
Ich kann doch nicht bei der Telefonseelsorge anrufen, sagte er sich.
Und er wurde wütend. Er griff sich irgendwelche Broschüren, die auf seinem Schreibtisch lagen, und schmiss sie gegen die Fensterfront.
Die Scheiben hielten dem Angriff stand. Kurz segelten die Broschüren durch den Raum.
Aber die Probleme, die er zuletzt zu beherrschen geglaubt hatte, wollten nicht verschwinden. Pratorama war weiter in der Öffentlichkeit präsent. In den Medien blühten die Spekulationen. Die Serienmorde konnten davon nicht ablenken, im Gegenteil. Sie verstärkten das negative Image der Stadtregierung. Offenbar hatte er Wien überhaupt nicht mehr im Griff. Das behaupteten zumindest prominente Kolumnisten. Das Wochenmagazin kontur hatte in seiner neuesten Ausgabe Stotz zur Zielscheibe hämischer Attacken erkoren. Zumindest empfand das Stotz so, der jeden Artikel, in dem er nicht hofiert wurde, als persönlichen Angriff empfand.
Sogar sein einstiges Leibblatt Clip24 war plötzlich auf die Seite der Kritiker
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