Maedchenauge
einem heftigen, alles durcheinanderwirbelnden Sturm von Eindrücken ausgesetzt gewesen waren, kamen ihr angenehm geordnet vor.
Sie schämte sich beinahe, sich dies eingestehen zu müssen. Eigentlich war sie erst jetzt bereit für die Aufgabe, die sie übernommen hatte. Sie überdachte ihr Verhalten der letzten Woche im Schnelldurchlauf. Immerhin hatte sie sich nichts vorzuwerfen. Sie hatte sich korrekt und kompetent verhalten. Hatte alles gegeben, was man von ihr und ihrer Rolle als Staatsanwältin erwarten durfte.
Nach einer raschen Dusche holte Lily ihren Jogginganzug aus dem Schrank. Während sie sich anzog, erinnerte sie sich an das Gespräch mit Albine. Wie sicher junge Frauen in Wien überhaupt noch seien, hatte Albine sie gefragt.
Lily schnürte ihre Asics -Sportschuhe zu. Für eine Sekunde hatte sie gestern das Gefühl gehabt, Albine hätte einen wesentlichen Punkt getroffen. Vielleicht würde ihr später wieder einfallen, worum es gegangen war. Außerdem, beschloss Lily, war es jetzt genug mit Eingebungen und Ahnungen. Konkretes war gefragt.
Als Lily im Wohnzimmer ihr Handy kontrollierte, bemerkte sie den Anruf. Gestern Abend um zweiundzwanzig Uhr und drei Minuten. Unbekannter Teilnehmer, keine Nachricht auf der Mobilbox.
Lily lief die Treppe hinab und trat aus dem Haus, ins Sonnenlicht. Es war halb zehn und der Rooseveltplatz geradezu menschenleer. Von ferne vernahm man das Rauschen des Verkehrs wie an einem beliebigen Wochentag. Sie spürte die typische Wiener Samstagsatmosphäre. Völlige Entspanntheit und aufgeregte Geschäftigkeit lagen nah beieinander.
Mit raschen Schritten spazierte Lily über den Ring und entlang des Donaukanals zur Salztorbrücke. Als sie die Brücke in den zweiten Bezirk überquerte, wandte sie sich kurz um. Sie schaute hinüber zu dem großen Wohnhaus, in dem Magdalena Karner ermordet worden war. Dort war jene Person gewesen, die alle Rätsel sofort aufklären könnte.
Weitere Gedanken in diese Richtung verbat sich Lily. Sie beschloss, das Wochenende nach Möglichkeit zu genießen. Es wusste ohnehin niemand, wie lange dieses Wochenende überhaupt dauern würde. Für sie, oder für Belonoz, oder für Steffek, Bardel, Metka und Kovacs.
In der Hollandstraße beobachtete sie die ersten Gäste einer kleinen Gastwirtschaft, die schon um diese Tageszeit alkoholbeschwingt diskutierten. Fast wäre sie stehen geblieben, um zu erfahren, was die zwei Frauen und drei Männer so erregte. Schließlich schlenderte sie doch weiter.
Jeder Schritt schien ihr kostbar. Beständig rückte sie Wien näher, während die New Yorker Vergangenheit im Nebel verschwand. Lily genoss die Gerüche und die Geräusche, die sie umgaben und in ihre Heimatstadt zurückholten. Alles war wie immer. Und zugleich wieder neu für sie. Sie wusste um die Kostbarkeit solcher Momente und befahl sich, diese Eindrücke im Gedächtnis zu verankern.
Den Karmelitermarkt beherrschte emsiges Treiben. Hausfrauen und ehrgeizige Hobbyköche besorgten sich Zutaten für ihre kulinarischen Vorhaben. Ehepaare streiften im Zeitlupentempo zwischen den Buden und Tischen herum. Junge Eltern manövrierten Kinderwagen durch das Gewühl auf den engen Wegen. Ältere Leute beäugten misstrauisch das Angebot und erkundigten sich nach den Preisen. Lily wusste, was sie wollte. Ihre Vergangenheit wiederfinden. Bis sie endlich sah, wonach sie sich während der gesamten Woche gesehnt hatte.
»Sie waren aber lang nicht mehr da«, sagte der rundliche ältere Mann mit den roten Backen, der jeden Samstag frisches Obst hier am Markt anbot.
Sofort hatte er sie erkannte. Lilys Herz war in die Höhe gesprungen. Am liebsten hätte sie gejauchzt vor Glück.
Sie war wieder zurück. Angenommen. Akzeptiert. In ihrer Heimatstadt.
»Gibt es noch Erdbeeren?«, fragte sie.
»Bei dem Wetter nicht. Aber Kirschen. Heute früh um halb fünf gepflückt.«
Er zeigte Lily seine Ware. Frische, karmesinrote Kirschen, wie es sie in keinem Supermarkt mehr zu kaufen gab. Lily war begeistert, nahm zwei Kilo und verabschiedete sich herzlich. Sie erkundete den Rest des Karmerlitermarkts und überprüfte, inwieweit sich ihre Erinnerung mit der Realität überschnitt, als ihr Handy läutete.
»Tut mir leid«, sagte die Stimme von Major Belonoz, »ich störe Sie nur ungern am Wochenende. Aber da gibt es etwas, das ich Ihnen sagen muss. Und zwar jetzt gleich.«
»Kein Problem. Was ist los?«
»Sie haben mich gestern gefragt, ob es einen Bezug zum Fall Pratorama
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