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Maedchenauge

Maedchenauge

Titel: Maedchenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian David
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gewechselt. Der samstägliche Aufmacher über die ausgestochenen Augen hatte für Aufsehen gesorgt. Heute Morgen war in einer anderen Zeitung ein langes Interview mit Mario Promegger erschienen. Zu den Morden selbst hatte er offenbar wenig zu sagen gewusst. Dafür hatte er Wien als eine Stadt gebrandmarkt, in der die Leute Unangenehmes verdrängten und lieber dem schönen Schein frönten. Auf diese Weise, hatte Promegger argumentiert, sei ein Korruptionssumpf entstanden, der Pratorama überhaupt erst möglich gemacht habe. Die etablierte Kultur des Wegschauens und feigen Abwiegelns erleichtere auch andere Verbrechen, hatte Promegger gesagt. Etwa die Serienmorde, die der Täter offenbar über Wochen hinweg völlig ungestört begehen könne.
    Dass es ein Fehler gewesen war, Promegger zuerst zu umgarnen und danach abzuservieren, wusste Stotz. Er hätte sich anders verhalten sollen. Nun war der Schaden angerichtet.
    Stotz begann zu schreien. »Man muss etwas tun!«
    Wütend schlug er mit der Faust auf seinen Schreibtisch.
    In zwei Stunden würde Michael Schegula ihn besuchen kommen. Ihm konnte man noch am ehesten trauen. Schließlich war ihm der Bürgermeistersessel versprochen worden. Schegula musste ihm helfen, damit nicht alles zusammenbrach.
    Genau dieses Bild hatte Stotz vor sich. Deshalb war er von Angst erfüllt. Die Macht, die er besaß, wollte er nicht abgeben. Durch sie war er wichtig geworden. Man hörte auf ihn. Und die Frauen schauten ihn an, wenn er irgendwo erschien, sie lächelten ihn an. Frauen, die ihn nicht eines einzigen Blickes gewürdigt hätten, besäße er keine Macht.
    Durch Fleiß, Geschick, Glück und Intrigen war Stotz eine öffentliche Person geworden. Diesem Ziel hatte er alles untergeordnet und geopfert, angefangen bei seinem Privatleben. Es gab schon seit Jahren keinen privaten Berti Stotz mehr. Er selbst wusste das am besten. Und so etwas hätte er einem Freund gebeichtet. Wenn da einer gewesen wäre. Einer, dem er wirklich vertrauen konnte, der nicht sofort alles, was er erfuhr, weitererzählte und den Medien zuschanzte. Der es nicht für alle Fälle notierte, um es irgendwann verwenden zu können.
    Schegula war auch kein Freund. Nur ein Verbündeter. Also das, was man in der Politik unter einem Freund verstand. Aber nicht im wahren Leben.
    Er massierte seinen linken Arm, der wieder einmal taub zu sein schien. Dabei blickte er durch die geschlossenen Fenster hinaus auf die Dächer der Stadt.
    Es muss unerträglich heiß sein draußen, noch viel ärger als hier drinnen, dachte Stotz.
    *
    Das Dottergelb der stuckverzierten Fassade machte geradezu Appetit. Das Gebäude stammte aus dem frühen 20. Jahrhundert, als in Wien noch für die Ewigkeit entworfen, konstruiert und errichtet worden war. Dick waren die Mauern, hoch die Räume, geräumig die Wohnungen. Hier ließ es sich leben, man konnte sich zurückziehen und einigeln. Der Lärm der Außenwelt drang nur gedämpft herein. Man wurde nicht gestört. Und man störte selbst keine anderen Menschen. Die Eingangshalle wartete gar mit etwas Marmor auf. Darüber hing eine Lampe, deren Messingkonstruktion Anklänge an den Jugendstil aufwies. Im ellipsenförmigen Treppenhaus verkehrte ein Aufzug, der sich noch im Originalzustand befand. Abgesehen von der sanft renovierten Kabine und ein paar technischen Neuerungen.
    Wie seine Tochter wohnte auch Franz Foltinek im dritten Bezirk. In der Hintzerstraße, nicht weit entfernt von der Wohnung, in der die Mordserie ihren Anfang genommen hatte. Das Verhältnis zwischen Sabine Foltinek und ihrem Vater musste innig gewesen sein. Das hatte Lily den Akten entnommen. Darum wollte sie unbedingt mit ihm sprechen.
    Ein hagerer Mann öffnete die zweiflügelige Doppeltür. Er hatte schütteres, schlohweißes Haar und war etwa Anfang sechzig. Er führte Lily in ein großzügig dimensioniertes, altmodisch eingerichtetes Wohnzimmer. Dampfender Kaffee stand bereit. Lily nahm auf einer abgewetzten Sitzgarnitur Platz.
    »Schön, dass Sie so pünktlich sind«, sagte Herr Foltinek freundlich, zugleich distanziert. »Das ist heutzutage selten. Die Menschen werden immer undisziplinierter. Niemand achtet auf Ordnung und Fleiß. Jeder will sich selbst verwirklichen. Sie dagegen, Frau Staatsanwältin, arbeiten sogar an einem Sonntag.«
    Lily lächelte breit. »Na ja, wenn es sein muss. Ich bin Ihnen jedenfalls dankbar, dass Sie so flexibel sind und Zeit für mich haben.«
    Mit umständlicher Genauigkeit schenkte Foltinek Kaffee

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