Maedchenauge
die Hausdurchsuchungen autorisiere. Und ich mache mich auf den Weg.«
Siebzig Minuten nach der Festnahme des jungen Mannes läuteten uniformierte Polizisten an der Tür einer alten Villa am Linnéplatz in Döbling. Das zweistöckige Haus musste einst bessere Zeiten gekannt haben. Der Verputz bröckelte, die Fensterscheiben waren verschmiert, der kleine Vorgarten verwildert.
Eine junge, schüchterne Frau mit dunkelblonden Haaren öffnete. Als sie gleich darauf erfuhr, was geschehen war, brach sie zusammen. Sie konnte nur noch weinen und jammern. Später zeigte sich, dass sie eine der beiden Schwestern des Verhafteten war.
Etwa zur gleichen Zeit ereignete sich im achten Bezirk, in der Lenaugasse, eine ähnliche Situation. Nur dass die Polizei erst unauffällig das sich schüchtern zusammendrängende Gebäude aus der Biedermeierzeit betreten und die gesuchte Wohnungstür finden musste. Glücklicherweise zeigten sich keine Hausbewohner.
Auch hier öffnete eine junge Frau. Sie war ebenfalls blond, doch wirkte sie entschieden wilder als das zerbrechliche Mädchen vom Linnéplatz.
Lily trat vor.
»Sind Sie Nicole?«, fragte sie.
Und erntete ein wortloses Nicken.
Dienstag, 22. Juni
29
Die Nacht war lang gewesen. Und Lily hatte vergessen, ihr Handy entweder abzudrehen oder es zumindest nicht in ihrem Schlafzimmer liegen zu lassen. Als das Telefon sie um halb acht Uhr morgens aus dem Schlaf läutete, hätte sie es aus Zorn beinahe an die Wand geschmissen.
Lily hörte eine Stimme. »Ich gratuliere Ihnen herzlich.«
Es war die Stimme von Oberstaatsanwalt Lenz. Was Lily im Halbschlaf nicht auf Anhieb erkannte. Zumindest dachte sie daran, sich vor einer Antwort rasch zu räuspern. Zumal vor Lenz wollte sie sich nicht mit Unausgeschlafenheit blamieren. Lenz zählte zu jenen Morgenmenschen, die aus ihrer Veranlagung gerne Vorteile schöpften. Indem sie etwa Termine am liebsten auf den frühen Vormittag legten, um gegenüber andersgearteten Menschen den Vorteil geistiger Frische auszunutzen.
»Vielen Dank«, sagte Lily und fragte sich, ob Lenz darauf abonniert war, sich zu den unmöglichsten Zeiten zu melden.
Auch um diese Uhrzeit blieb Lenz bei seiner hohlen Formelhaftigkeit. »Ich war sehr erfreut, von den Verhaftungen zu hören. Das ist ein Meilenstein. Und es zeigt sich, wie richtig es von mir war, Sie mit diesen schwierigen Ermittlungen zu betrauen.«
»Ja, danke, Herr Oberstaatsanwalt.«
Lily fiel auf, dass Lenz’ Lob für sie zugleich mit einem Selbstlob verbunden war. Der süßliche Tonfall des Oberstaatsanwalts alarmierte sie zusätzlich. Ihr Instinkt täuschte sie nicht.
»Wissen Sie, Frau Kollegin, diese Sache ist besonders interessant, weil … Na ja, nennen wir es beim Namen. Die beiden Verhafteten sind natürlich nicht irgendjemand …«
Lily rätselte, worauf Lenz hinauswollte, zugleich spürte sie, dass er etwas im Schilde führte. »Wie meinen Sie das, Herr Oberstaatsanwalt?«
»Dieser Thomas Saborsky, dazu noch seine Schwester … Da muss man schon ein bisschen vorsichtig sein, nicht wahr? Saborsky ist ja nicht irgendein Name in Wien. Also, Sie wissen schon, was ich meine. Noch einmal herzliche Gratulation und weiter viel Erfolg.«
Lenz hatte das Telefonat beendet. Lily hatte keine Ahnung, worauf er angespielt hatte. Doch sie spürte, dass das Herumgerede des Oberstaatsanwalts nichts Gutes verheißen konnte.
Dann beschloss sie, einfach nicht mehr daran zu denken. Sie drehte sich auf die andere Seite und schlief noch eine halbe Stunde, bis der Radiowecker ansprang.
Zwei Stunden später war es Belonoz, der Lily während der Besprechung aufklärte. Wobei er angesichts von Lilys Bildungslücke grinsen musste.
»Der alte Saborsky war eine große Nummer in Wien«, sagte er. »Jedenfalls in bestimmten Kreisen. Ludwig Saborsky war der Prototyp eines Multifunktionärs. Universitätsprofessor am Institut für Germanistik, Mitglied dreier Schriftstellervereinigungen, Literaturkritiker und Juror bei wichtigen Literaturpreisen. Außerdem hat er Theater- und Opernkritiken geschrieben, war Berater der Salzburger Festspiele, Träger des Großen Österreichischen Staatspreises für Theaterkritik, Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis. Habe ich irgendwas vergessen, Edi?«
Steffek reagierte sofort. »Stadtrat war er auch einmal.«
»Genau. In Wien war er Stadtrat für Kultur. Vor etwa zehn Jahren.«
Nun begriff Lily, weshalb ihr der Name nichts gesagt hatte. Ludwig Saborsky war wohl eine Größe gewesen,
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