Maedchenauge
Menschen wohnten, die sich keine Villen, aber solide bürgerliche Unterkünfte leisten konnten. Die auf Behaglichkeit mehr Wert legten denn auf architektonische Finessen. Wohlanständigkeit und Konformität wurden wie Fetische verehrt. Zu den Nachbarn wahrte man höfliche Distanz. Zugleich wurde ständig beobachtet, ob jemand aus der Phalanx der Normalität auszubrechen drohte. Dann konnte bedenkenlos getuschelt und verurteilt werden, in Abwesenheit der vermeintlich Schuldigen.
Sonntagmittag hatte eine Frau die Feuerwehr angerufen, nachdem ihr der starke Rauch aufgefallen war. Für das Haus war es beinahe zu spät, in seinem Inneren verkohlte nahezu alles. Dennoch konnten Polizeibeamte einen Panzerschrank mit Aktenordnern sicherstellen, die auf Pratorama hindeuteten.
»Damit war Seiler im Spiel«, sagte Steffek zu Lily. »Seitdem gilt Informationssperre.«
»Aber sicher nicht für Sie.«
»Sicher nicht. Der Mann hat Hans Labuda geheißen. Dreiundfünfzig Jahre alt. Von Beruf Privatdetektiv.«
Belonoz streckte den Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger herausfordernd auf Steffek. »Das steht fest?«
»Er ist bis auf die Knochen verbrannt.«
»Hat er dort allein gewohnt?«, fragte Lily.
»Anscheinend ja. Nur er war an dieser Adresse gemeldet. Auch die Nachbarn haben nichts über weitere Bewohner gewusst.«
»Was war die Brandursache?«
»Das ist interessant. Manches deutet auf Brandstiftung hin. Andererseits muss man sich dann fragen, warum Labuda im brennenden Haus geblieben und ums Leben gekommen ist …«
»Gut gemacht, Edi«, sagte Belonoz. »Bleib an der Sache dran.«
Der Major brachte Steffek eilig zur Tür und verabschiedete ihn mit einem herzlichen Handschlag.
Lily entging die plötzliche Geschwindigkeit nicht. Besorgt sah sie Belonoz an. »Sie haben ihn rasch wieder loswerden wollen, Herr Major.«
Belonoz wich ihrem Blick aus. »Richtig erkannt.«
Er schwieg.
Lilys Stimme wurde weich. »Wenn es etwas gibt, das Sie mir sagen wollen, aber nicht …«
»Auch ich habe Hans Labuda gekannt.«
Die Härte und Kälte seines Tonfalls ließen Lily erstarren. Es war, als hätte der Major eine endgültige Antwort geben wollen. Eine, die weitere Nachfragen auf Abstand hielt. Doch Lily musste die Details erfahren.
Sie sah den Major streng an. »Was meinen Sie damit?«
Belonoz zuckte die Schultern. »Er war ein Kollege. Ein Kriminalbeamter. Für mich ist es mit dem Polizeiskandal wieder aufwärts gegangen. Und für ihn … eben umgekehrt. Labuda war irgendwie darin verwickelt. Gerüchte hat es genug gegeben, genaue Details hat niemand erfahren. Vor drei Jahren hat Labuda gekündigt. Seitdem hat er sich als Privatdetektiv durchgeschlagen. Er soll davon ganz gut gelebt haben. Angeblich hat er für Politik und Wirtschaft heikle Aufträge übernommen.«
»Was heißt das?«
»Er hat gute Beziehungen gehabt. Besonders zum Wiener Ex-Bürgermeister.«
»Zu Berti Stotz?«
»In der Branche hat man sich das erzählt. Was niemanden erstaunt hat. Labudas politische Verbindungen waren bei Insidern bekannt. Angeblich hat er es ihnen zu verdanken gehabt, dass er rechtzeitig seinen Posten verlassen hat. Dadurch ist er nicht mehr direkt in den Skandal hineingezogen worden.«
»Glauben Sie, dass Labuda über verwertbares Hintergrundwissen verfügt hat?«
»Sicher. Er war nicht ganz sauber. Jetzt hat er die Geheimnisse mit ins Grab genommen.«
»Kurios«, sagte Lily und schüttelte verwundert den Kopf. »Wir haben den Mann beide gekannt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.«
»Schade, dass wir das erst jetzt entdecken.«
»Dafür steht nun fest, dass die Morde mit Pratorama in Zusammenhang stehen. Also hat auch unser Briefschreiber mit Pratorama zu tun. Das verschleiert er. Aber seine Taten sprechen gegen ihn. Jetzt hat er einen Privatdetektiv getötet, der zu viel gewusst hat.«
Da verzog Belonoz das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Na Moment, Frau Doktor, Sie sind ziemlich rasant unterwegs. Sie glauben also, dass Labuda ermordet worden ist? Ohne Beweise? Wagen Sie sich mit Ihrer Intuition wirklich so weit vor?«
»Ja, Herr Major. Natürlich könnte auch das wieder ein Zufall sein. Aber ich habe es satt, an lauter Zufälle zu glauben. Dahinter steckt eine ganz spezifische Logik, die von Pratorama über die Auswahl der Opfer bis zu Labudas Aussagen beim Theseustempel reicht. Wir verstehen das System noch nicht. Deshalb entgeht uns der Zusammenhang. Aber am Ende wird sich ein stimmiges Bild
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