Maedchenauge
eine Stunde Fahrzeit habe ich noch vor mir. Dann bin ich am Tatort, sobald ich dort fertig bin, geht es wieder zurück ins Büro … Na, am besten, ich denke gar nicht darüber nach, dass ich seit sechs Uhr früh im Dienst bin … Aber einen Kaffee brauche ich jetzt noch schnell.«
Descho lächelte und nickte. »Das sind die Vorteile unseres Berufs. Jeder Tag bringt Unerwartetes … Aber weißt du was, nimm gleich meinen Kaffee, du brauchst ihn dringender als ich. Ich mach mir einen neuen.«
»Da bin ich dir wirklich dankbar«, sagte Kaller schon etwas heiterer. »Wobei es schon ein lustiger Zufall ist, dass wir uns ausgerechnet jetzt treffen.«
»Wieso?«
»Na, du hast mir doch vor ein paar Tagen von deinen Ermittlungen für die Wiener erzählt … Geh, Ferdinand, komm einfach auf einen Sprung in mein Büro, das wird dich garantiert interessieren.«
Descho folgte Kaller in dessen Stockwerk. Dort überreichte ihm der Kollege einen Computerausdruck. Das Foto eines Mannes.
»Das hab ich mir vom Passamt schicken lassen«, sagte Kaller. »Hast du nicht gerade erst mit dem zu tun gehabt?«
Während Kaller seinen Espresso in kleinen Schlucken austrank, sah sich Descho das Foto genauer an. Bis ihm die Erleuchtung kam. »Sicher, jetzt erinnere ich mich … Letzte Woche habe ich mit ihm gesprochen, als die Kollegen wegen der Serienmorde angefragt haben. Hat der was angestellt? Kann ich mir eigentlich kaum vorstellen …«
»Du hast völlig recht. Jemand hat etwas mit ihm angestellt. Und jetzt hat er ein Loch in seinem Schädel, von dem er sich leider nicht mehr erholen wird.«
»Ein Unfall?«
»Ganz sicher nicht. Da war ein freundlicher Mitmensch im Spiel. Jedenfalls schaut es danach aus. So, jetzt muss ich dich verlassen und losfahren.«
»Halt mich auf dem Laufenden, Roman. Das ist wirklich ein unglaublicher Zufall.«
Descho kehrte in die Teeküche zurück. Er machte sich an einen neuen Espresso. Und wusste, dass er wieder im Spiel war.
*
Lily begriff sofort, dass sich Marina Lohner den Treffpunkt nicht zufällig ausgesucht hatte. Er lag zwar in der Nähe des Grauen Hauses, aber die Gegend war schon am frühen Abend wie ausgestorben. In der Umgebung waren vor allem Büros untergebracht, außerdem die Oesterreichische Nationalbank und diverse Universitätsinstitute. Niemand suchte hier abends einen Parkplatz, nur gelegentlich kamen Leute vorbei, die ihre Hunde ausführten. Der Platz war gut und einfach zu überschauen.
Das blankgeputzte Dienstauto der neuen Bürgermeisterin befand sich an der vereinbarten Stelle. Wenige Meter entfernt stand der Fahrer und rauchte eine Zigarette. Als Lily näher kam, ging eine Tür auf.
Es ertönte die Stimme von Marina Lohner. »Steigen Sie bitte ein, Frau Doktor.«
Lily ließ sich auf die weich gepolsterte Rückbank fallen. Hier hatte sie keine Wahl, ein Holzsessel stand nicht zur Verfügung.
Die Bürgermeisterin saß neben ihr und lächelte sie so gewinnend an, als posierte sie für ein Plakat. »Vielen Dank, es freut mich, dass Sie kommen konnten.«
Lily gelang ein Lächeln, das bewusst kühl ausfiel. »Frau Lohner, ich sage Ihnen am besten gleich, dass ich mich jetzt und hier im Dienst befinde. Ich will Ihnen nichts unterstellen, das wäre unhöflich. Aber falls es um irgendwelche Absprachen oder Beeinflussungsversuche gehen sollte, bin ich die falsche Person. Ich muss mich um die Suche nach einem Mörder kümmern. Alles andere interessiert mich nicht. Sollten Sie das Gegenteil vermutet haben, ist dieses Treffen rascher vorbei, als Sie denken.«
Marina Lohner hatte sie mit unwandelbarer Freundlichkeit angesehen. »Machen Sie sich nicht die geringsten Sorgen, Frau Doktor. An Machenschaften ist mir nicht gelegen. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre auf dem Abstellgleis gelandet. Eben aufgrund solcher Intrigen im Hintergrund. Ich habe das satt. Und ich muss gestehen, dass ich mein neues Amt noch einige Zeit behalten möchte. Deshalb muss ich reinen Tisch machen. Dieses Treffen gehört dazu. Ich habe es mir gut überlegt, ob ich Sie kontaktieren soll. Ihre Vorbehalte überraschen mich nicht. Es spricht für Sie, dass Sie mir gegenüber reserviert sind. Ich habe nicht vor, Sie zu kompromittieren. Sondern ich will, dass Sie etwas wissen, das ich nicht für mich behalten sollte. Ist das für Sie in Ordnung, Frau Doktor?«
Lilys Miene blieb ausdruckslos. »Alles hängt davon ab, was Sie mir eigentlich mitteilen wollen, Frau Bürgermeisterin.«
»Es geht um Herrn
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