Maedchenauge
man in höchste Höhen ebenso steigen konnte wie in tiefste Abgründe. Aber immer ohne Netz, ohne rettenden Fallschirm. Volles Risiko. Mit jemandem wie Belonoz bewegte man sich in permanenter Absturzgefahr.
»Ich spreche jetzt bewusst sehr offen mit Ihnen«, sagte Belonoz schließlich, und sein Tonfall war kalt und distanziert. »Aber die Ermittlungen in diesem Fall stocken. Wir Kriminalbeamten brauchen jemanden in der Staatsanwaltschaft, mit dem wir zusammenarbeiten können. Jemanden, der uns nicht alleinlässt, der mit uns zusammen auf Mörderjagd geht. Und den Täter stellt. Ohne Rücksicht auf die politischen Verhältnisse in Wien. Ohne Angst vor Auswirkungen auf die eigene Karriere.«
Lily senkte ihren Blick auf die Tischplatte mit dem darauf liegenden Aktenmaterial. Die unterschiedlichsten Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie dachte an ihr Gespräch mit dem Oberstaatsanwalt. An den überraschenden Vorschlag, diesen Fall zu übernehmen. Und an die schmeichelnden Worte von Lenz, der sehr gut mit den unterschiedlichen politischen Kreisen auszukommen pflegte.
Sie fragte sich, welches Spiel im Gange war. Und welche Rolle sie selbst darin verkörperte. Aber sie hatte dem Angebot von Lenz zugestimmt. Das war nicht mehr rückgängig zu machen. Und sie wollte das auch gar nicht.
Lily erhob sich aus ihrem Sessel und blieb vor dem sitzenden Belonoz stehen.
»Herr Major, ich möchte den Tatort des letzten Mordes sehen. Begleiten Sie mich dorthin?«
Belonoz blickte Lily an. Etwas Undefinierbares lag jetzt im Ausdruck seiner blauen Augen. Er stand auf.
»Dann gehen wir«, sagte Belonoz.
9
Kurz vor sechzehn Uhr wurde Leutnant Descho von der Erinnerung überfallen. Die Erinnerung war sehr undeutlich, eher eine Ahnung, ein Nachspüren von etwas, das gewesen sein könnte. Zugleich war er überzeugt, sich nicht zu täuschen.
Sein Kollege war in die Kantine gegangen, Descho befand sich allein im Büro. Er setzte sich an den Computer und recherchierte. Das Ergebnis war gleich null.
Er wusste es besser. Da war etwas gewesen. Aber warum konnte er dazu im Computer nichts finden?
Descho suchte die Nummer in seinem Telefonverzeichnis und wählte sie. Der gewünschte Teilnehmer meldete sich sofort.
»Ferdi, schön, wieder einmal von dir zu hören«, sagte Roman Kaller. »Wie geht es der Familie?«
»Großartig, alles bestens.«
Descho kannte Kaller noch aus gemeinsamen Zeiten in der Polizeischule.
»Entschuldige, Roman, aber ich habe eine Frage. Hast du mir nicht vor einiger Zeit von einer jungen Frau erzählt, die von ihrem Freund attackiert worden ist?«
Für einen Augenblick herrschte völlige Stille, als wäre die Leitung tot.
»Ich weiß nicht … Wann soll das gewesen sein?«, fragte Kaller schließlich.
»Vor ein paar Wochen, glaube ich.«
»Aha … Nein, also da fällt mir im Moment überhaupt nichts ein. Bist du sicher, dass du das von mir hast?«
»Freilich. Du hast mir erzählt, dass eine junge Frau eine Anzeige erstattet hat …«
»Sekunde, Sekunde«, unterbrach ihn Roman. »Jetzt fällt es mir wieder ein, weil du von der Anzeige sprichst. Ich weiß, was du meinst. Ja, den Fall hat es gegeben.«
»Der Punkt ist nämlich, Roman, dass ich im Computer gar nichts dazu finde.«
»Das wird schon so sein.«
»Wieso denn?«
»Weil die Anzeige wieder zurückgezogen worden ist.«
»Und das bedeutet, dass es …«
»… dass es diese Anzeige niemals gegeben hat. Aber warum interessiert dich das eigentlich?«
»Weißt du, es gibt …«, sagte Descho zögerlich und überlegte rasch, wie er die Sache angehen sollte und wie offen er reden könne. »Also ich bin da mit einem Fall befasst, der uns eigentlich gar nicht direkt betrifft. Ein Fall aus Wien, bei dem ich mit ein paar Nachforschungen aushelfe, hier in Salzburg.«
»Ein Fall aus Wien, na sowas.«
»Du hast sicher davon gehört, aber es wäre gut, wenn das unter uns bleibt … Es geht um diese Mordserie …«
»Du meinst die ermordeten Studentinnen? Wo es gestern ein neues Opfer gegeben hat?«
»Genau.«
»Die Salzburger Kriminalpolizei ist also auch involviert. Und du machst das?«
»Ja.«
»Was hättest du denn wissen wollen?«
»Alles, was du über den Vorfall noch finden kannst. Vielleicht ist irgendwo etwas gespeichert und noch nicht gelöscht worden.«
»Ich werde schauen, vielleicht kann ich da ein bisschen recherchieren«, sagte Roman und legte auf.
Nach zwanzig Minuten meldete er sich telefonisch wieder bei seinem alten
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