Maedchenauge
getan. Fünf Jahre zuvor, nach einem heftigen verbalen Schlagabtausch mit einem eitlen, politisch gut vernetzten Vorgesetzten, war er dorthin strafversetzt worden.
In dieser Abteilung hatte er sich mit anderen, gleichfalls ungeliebten Kollegen wiedergefunden. Den ganzen Tag hatten sie nichts anderes zu tun gehabt, als mühsam die leeren, von kompletter Untätigkeit erfüllten Stunden abzusitzen. Ziel der Vorgesetzten war es gewesen, die Störenfriede zu zermürben und sie zur freiwilligen Kündigung zu zwingen.
Zugleich war penibel überprüft worden, ob einer von ihnen jemals auch nur eine Sekunde zu spät zum Dienst erschienen war oder sich sonstiger, auch nur geringster Verfehlungen schuldig gemacht hatte. Überraschend eintreffende, von Nebensächlichkeiten handelnde E-Mails, die nicht binnen Minuten beantwortet worden waren, hatten demütigende, sich über Tage erstreckende Ermahnungen der Polizeileitung nach sich gezogen. Durch Testanrufe war regelmäßig kontrolliert worden, ob die Mittagspause auch nicht um wenige Minuten überschritten worden war. Urlaubsansuchen waren erst nach wochenlanger Verzögerung genehmigt worden, was längerfristige Buchungen unmöglich gemacht hatte. Einige Beamte, die Mütter oder Väter waren, hatten deshalb irgendwann aufgegeben und gekündigt. Belonoz hatte durchgehalten. Aber er hatte dafür einen Preis bezahlt und bewohnte das Haus an der Alten Donau fortan allein.
Polizeiintern war die überflüssige Abteilung für internationale Kooperation als Strafkolonie berüchtigt gewesen. Dennoch hatte sich niemand getraut, dagegen zu protestieren. Auch die Personalvertretung war stumm und mutlos geblieben. Vielleicht, weil ihr suggeriert worden war, dass die Abteilung eine soziale Lösung für unfähige Polizeibeamte sei. Erst als jener Polizeigeneral, mit dem Belonoz aneinandergeraten war, im Sumpf der Korruption versunken war, hatte sich eine reformierte Polizeiführung an den Major erinnert und ihn rehabilitiert.
Belonoz sah die Staatsanwältin an und begann zu erzählen.
»Es war vor vier Wochen, am sechzehnten Mai, einem Sonntagvormittag«, sagte er. »Der Bewohner eines Mietshauses im dritten Bezirk hat sich beim Polizeinotruf gemeldet. Er hat eine junge Frau beschrieben. Seine Nachbarin. Sie soll schon seit mehreren Stunden auf ihrem Balkon in einem Liegestuhl gesessen sein. Ohne sich zu bewegen. Bei der Polizei hat er sich erkundigt, ob er eventuell bei der Wohnungstür anläuten soll. Der Ärmste hat einen Hitzekollaps vermutet.«
»So hat es angefangen?«, fragte Lily.
»Ja, genau so.«
»Scheinbar harmlos also.«
»Ein Routinenotruf.«
»Und weiter?«
»Das Opfer war Sabine Foltinek. Einundzwanzig Jahre alt, gebürtige Niederösterreicherin, die in Wien Wirtschaft studiert hat. Na ja, studiert … mehr oder minder. Ihre Eltern besitzen ein erfolgreiches Busunternehmen und mehrere Reisebüros. Die Tochter war mehr am Wiener Nachtleben interessiert. Ein paarmal ist sie in den Gesellschaftsspalten der Lokalpresse aufgetaucht. Und im Internet auf Seiten, die über Partys berichten. Mit Fotos.«
»Sie war also ein bisschen prominent.«
»Aber überhaupt nicht. Nur ein Partygirl, das sich manchmal gerne in Szene gesetzt hat.«
»Bis irgendwann der Vorhang gefallen ist«, murmelte Lily.
Kurz streifte Belonoz die Staatsanwältin mit einem interessierten Blick, der dann wieder so kühl und distanziert wurde wie zuvor. »Bei Sabine Foltinek hat der Arzt dreiundzwanzig Stiche in den Oberkörper festgestellt. Dazu die ausgestochenen Augen sowie das Klebeband. Die Öffentlichkeit weiß davon überhaupt nichts.«
»Sind diese Details nach dem zweiten Mord publiziert worden?«
»Auch nicht bei Lisa Back, ermordet am neunundzwanzigsten Mai.«
»Die Medien wurden aber darüber informiert?«
»Nein. Jedenfalls was mich betrifft. Ich habe keinem Journalisten etwas darüber gesagt. Aber letztlich kann ich nur für mich selbst garantieren. Und für mein Team. Für die lege ich die Hand ins Feuer.«
»Warum hat man diese Informationen zurückgehalten?«
»Das ist auf Anweisung Ihres Vorgängers geschehen. Also von Doktor Seiler. Um einige Details geheim zu halten, die als Täterwissen gelten können. Und um unnötige Trittbrettfahrer oder sonstige Wichtigmacher und Pseudoinformanten zu verhindern. Aber ich …«
Belonoz zögerte für einen Moment.
»Ja?«, fragte Lily vorsichtig.
»Ich war nicht überzeugt von dieser Maßnahme. Genau das war nämlich der Triumph des
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