Maedchenauge
zahlreichen Nachbarn …«
»Stimmt natürlich.«
»Allerdings ist bis jetzt nicht erwiesen, dass es eine Person gibt, die mit allen Opfern bekannt war. Wir haben die ersten beiden Fälle genau analysiert. Keinerlei Verbindungen.«
Lily sah sich in dem Raum um, in dem sie standen. Die Wohnung bestand aus zwei Zimmern, einem Arbeits- und Schlafzimmer sowie einem Wohnzimmer.
»Wie groß ist die Wohnung? Vierzig, fünfundvierzig Quadratmeter?«
»Dreiundvierzig«, präzisierte Belonoz.
»Und das in bester Wiener Lage. Wie hat sich eine Studentin das leisten können?«
»Die Eltern sind dafür aufgekommen.«
»Nachvollziehbar«, murmelte Lily und ging zur Tür, die in das kombinierte Schlaf- und Arbeitszimmer der Studentin führte.
»Wir müssen beim Hauseigentümer in Erfahrung bringen, wie hoch die Miete war.«
»Knapp sechshundert Euro«, erwiderte Belonoz, der ihr gefolgt war.
»Trotzdem keine Mezzie. Sind ihre Eltern wohlhabend?«
»Ganz normale Salzburger Angestellte. Offenbar war es ihnen das Geld wert.«
»Und was war ihnen das Geld wert?«
»Gute Frage, Frau Staatsanwältin.«
»Die Eltern sind schon befragt worden?«
»Ja, in der Nacht auf heute. Morgen ist ein zweites Gespräch geplant. Übrigens haben die Eltern angekündigt, am Mittwoch nach Wien zu kommen.«
»Bei der Gelegenheit kann man sich ja ein weiteres Mal mit ihnen unterhalten.«
»Sicher«, sagte Belonoz und holte sein vibrierendes Handy aus der Sakkotasche. Lily setzte inzwischen die Inspektion der Wohnung fort und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Sie wollte hier, wo das Opfer gelebt hatte, Spuren der Persönlichkeit der Ermordeten entdecken. Sie wollte Magdalena Karner näherkommen. Näher, als dies durch Verhörprotokolle oder Leichenfotos möglich war.
Als sie wieder zu Belonoz sah, der telefonierend an einem der Fenster stand und hinausstarrte, hörte sie von ihm nur noch die Worte: »Und zwar möglichst sofort. Danke.«
Belonoz klappte sein Handy zu und sah Lily an. Sein Blick wirkte wie elektrisiert.
»Das war ein Anruf aus Salzburg.«
In knappen Worten schilderte Belonoz, was Descho recherchiert hatte.
»Das heißt«, schloss er seine Ausführungen, »wir haben jemanden, der eine Frau körperlich bedroht hat, aus welchen Gründen auch immer. Und dieser Jemand war der Freund des neuesten Opfers. Zum ersten Mal haben wir etwas halbwegs Konkretes.«
Lily nickte.
»Natürlich«, sagte sie und ging auf den Major zu, »allerdings glaube ich …«
»Sofort stehen bleiben!«, brüllte Belonoz plötzlich.
Lily erstarrte. Belonoz stand noch immer beim Fenster und rührte sich nicht. Konzentriert beobachtete er, was draußen vor sich ging. Sein Gesichtsausdruck verriet höchste Anspannung.
»Warten Sie beim Hauseingang, bis ich wieder zurück bin!«, rief er und stürmte aus der Wohnung.
Perplex hatte Lily das Geschehen verfolgt. Alles war so rasch gegangen, dass sie kein Wort hatte äußern können.
Eigentlich wollte sie Belonoz sofort folgen. Aber dann beschloss sie, die Gelegenheit zu nutzen. Noch einmal machte sie einen raschen Rundgang durch die Wohnung.
Hier hast du gewohnt und dich sicher gefühlt, dachte Lily, und hier hat dich vor sechsunddreißig Stunden dein Schicksal ereilt.
Eine freundliche, nette Atmosphäre strahlten die Räume aus. Beinahe zu perfekt. Zu aufgeräumt.
Und jetzt begriff Lily, was sie bisher intuitiv gestört hatte. Es war die Wohnungseinrichtung. Diese Möbel erzählten nicht von einer Studentin. Nicht von einer jungen Frau Anfang zwanzig. Sondern von einer viel reiferen, auf jeden Fall schon erwachsenen Frau, die der Meinung war, zu wissen, wie es im Leben so laufe. Die keine Lust mehr auf Abenteuer hatte, sondern sich mit betonter Ordnung umgab.
Irgendetwas stimmt an dieser Wohnung nicht, überlegte Lily, und die Wohnungseinrichtung ist ein Symptom. Aber wofür?
In der Nähe des Schreibtisches hatte Lily einen großen Plan gesehen, der an einer Pinnwand befestigt war. Penibel waren dort sämtliche Lehrveranstaltungen des Semesters aufgelistet. Mit unterschiedlichen Farben versehen, die für Magdalena Karner offenbar irgendeinen Sinn ergeben hatten. Das Bizarre jedoch war die Handschrift, in der kurze Notizen in den Plan eingetragen worden waren. Eine ganz und gar seltsame Handschrift, sehr rund, bemüht, unsicher, etwas zu groß.
Es war die Schrift eines Kindes.
Lily fragte sich, was hier der Persönlichkeit des Opfers entsprach. Die Möbel oder die Handschrift? Gar beides?
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