Maedchenauge
Und wie war dies miteinander in Einklang zu bringen? Besaß dies überhaupt Relevanz für den Fall?
Für einen Moment empfand Lily Angst. Sie fürchtete sich vor einem großen Loch, das sich vor ihr auftun könnte. Und in das sie zu stürzen drohte, weil die vielen ungelösten Fragen sie an den Rand des Abgrunds drängten.
Aber dann schob sie die Selbstzweifel beiseite. Im Laufe ihrer Karriere bei der Staatsanwaltschaft war Lily vor Selbstsicherheit nur so strotzenden Menschen begegnet, die sich bei genauerem Hinschauen als das komplette Gegenteil entpuppt hatten. Und andere, ebenso scheinbar selbstsichere Menschen waren eben aufgrund ihres Mangels an Selbstzweifeln in die Irre gegangen. Eigentlich fiel eine Mehrzahl der Straftäter, mit denen Lily zu tun gehabt hatte, in diese Kategorie. Sie waren sich ihrer Sache stets allzu sicher gewesen, hatten gedacht, dass ihnen nichts geschehen könnte. Und sie waren überzeugt gewesen, mit den aberwitzigsten Unternehmungen davonzukommen. Mangel an Selbstzweifeln war ein Ausdruck von Dummheit.
Wie schon am Tag zuvor, kurz bevor sie Albine getroffen hatte, verspürte sie das dringende Bedürfnis, mit Onkel Neubauer zu reden. Nachher würde ihr Kopf wieder frei sein für neue Gedanken. Onkel Neubauer würde helfen. Wie immer, wenn die Unsicherheit sie zu überwältigen drohte.
Lily verließ die Wohnung. Vor der Tür stand eine uniformierte Polizistin, die höflich salutierte. Mit dem Aufzug fuhr Lily hinab, schritt zum Haustor und öffnete es energisch. Nun war Entschlossenheit angesagt, hatte sie für sich entschieden. Zumindest der Schein musste gewahrt werden, für den Moment.
Zwei weitere Uniformierte erblickten die Staatsanwältin und näherten sich ihr.
»Wissen Sie eventuell, was der Kollege Belonoz gerade macht und wo er ist?«, fragte sie die Polizeibeamten.
»Er hat hier in der Nähe einen Tatverdächtigen gesehen und ist ihm nach«, sagte einer der beiden.
»Na ja, Tatverdächtiger … Ich habe ihn eher so verstanden, dass sich jemand verdächtig benommen hat«, schaltete sich der zweite Beamte ein.
»Da kannst du recht haben, aber auf jeden Fall wird er nicht grundlos losgerannt sein. Instinkt hat er ja einen guten, das muss man ihm lassen.«
»Danke«, sagte Lily und ging weiter.
Sie empfand eine leichte Aufregung. Zugleich warnte sie sich selbst vor verfrühter Euphorie. Weil sie nichts so sehr fürchtete wie die Enttäuschung, die einem trügerischen Hochgefühl folgt. Dennoch musste man nun hoffen, zumindest ein bisschen. Und möglichst gelassen abwarten, was der Major erreichen würde.
Lily blickte am Gebäude empor, hin zu den Fenstern der kleinen Wohnung von Magdalena Karner. Etwas kam ihr in den Sinn. Etwas, worüber sie gerade erst nachgedacht hatte, war ihr beim Verlassen des Hauses noch einmal eingefallen. Für den Bruchteil einer Sekunde, ganz rasch aufleuchtend und wieder verlöschend wie eine Sternschnuppe. Als hätte eine innere Zensur in ihr beschlossen, diesen Gedanken für sinnlos zu erklären. Er war so seltsam und abwegig gewesen, dass sie ihn sofort und unrettbar verdrängt hatte. Und trotzdem schien ihr, als hätte dieser Gedanke etwas mit dem Fall Karner zu tun gehabt.
Lily befahl sich, diese Überlegungen abzustellen. Und das gelang ihr auch. Bloß dieses Bild verschwand nicht. Das Bild der Kinderschrift einer jungen Frau, die in ihrem Zuhause zu Tode gequält worden war.
*
Der Raum war ganz in Weiß gehalten. Er lag im letzten Stockwerk des schlanken, hohen Glasturms. Die Klimaanlage surrte sanft im Hintergrund, es war beinahe kühl.
Die Frau mit dem schulterlangen, tiefschwarzen Haar hatte, wie immer allein, hinter einem großen Tisch Platz genommen. Das war ihr Thronsaal. Sonst befanden sich hier nur Stühle, die alle besetzt waren, weshalb viele stehen mussten.
Am Anfang hatte Alexandra Derflinger den herkömmlichen Karriereweg beschritten. Nach ersten beruflichen Schritten bei kleinen oberösterreichischen Provinzblättern hatte sie es nach Wien geschafft. Hier waren es bessere Zeitungen gewesen, für die sie gearbeitet hatte. Bis sie eines Nachts beschlossen hatte, so nicht weitermachen zu wollen.
Die Grenzen ihres Talents waren ihr täglich vor Augen geführt worden. Abschätzige Kommentare von Kollegen hatten sich gehäuft, und über Artikel zu neuen Wiener Fitnessstudios, den wirksamsten Anti-Falten-Cremes oder aktuellen Trends bei Schuhkollektionen war sie nie hinausgelangt. Ein Versuch, sich als Urlaubsvertretung
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